Anatomie Einer Nacht
werden nicht zugezogen, sondern gewähren immer einen Blick ins Innere, in die Gedärme, wie Inger sie nennt, die Räume, die sich parallel zum Fluss entlangwinden, schlauchförmig, und so ein Höhlensystem bilden, das seinen Endpunkt in der Waschküche und seinen Ausgangspunkt in der Küche hat.
Das Waschhaus ist ein Ort der Scham: ein Ort, der der Verachtung trotzt, weil es notwendig ist, den wenigen Besitz zu reinigen; ein Ort, der das Versagen öffentlich macht und den Benützern das Eingeständnis abverlangt, dass man es in dieser Gesellschaft zu nichts gebracht hat, zu keinem modernen, zivilisierten Dasein. Aus diesem Grund hängt über dem Haus eine Leere, eine Unbewohntheit, man könnte auch sagen eine Unberührtheit, die absichtlich und erzwungen ist, da darauf geachtet wird, nichts zurückzulassen, das Rückschlüsse auf die Identität des Benutzers zulässt. Die eigenen Spuren werden sorgsam verwischt, sobald man es verlässt, nur Verderbliches, Vergängliches wird dagelassen und von den Nachfolgenden aufgegessen, getilgt. Lediglich die Touristen, die in den Sommermonaten im Tal der Blumen ihr Zeltlager aufschlagen, machen es sich im Waschhaus gemütlich, wenn sie es in der nassen Kälte, die alle paar Tage über Amarâq hereinfällt, gehäuft vor allem Ende August, mit Herbstbeginn, nicht länger aushalten, so dass alle Reste, die es im Waschhaus gibt, Touristenreste sind, unschuldige Reliquien, die diese Scham nicht kennen. Auf sie stürzen sich die Bewohner Amarâqs, und wenn sie sie ergattert haben, geben sie vor, sie selbst erstanden zu haben, von einem Teil eines Besitzes, der nie existierte.
Inger geht durch die Räume und knipst in jedem das Licht an; sie erträgt die Dunkelheit nicht mehr. Als sie das zweite Mal am Eingangsbereich vorbeikommt, zögert sie für einen Moment, dann greift sie nach ihrer Jacke, schlüpft in die Schuhe und geht nach Hause, ohne das Ende der Wäsche abzuwarten.
Fast kommt es Keyi so vor, als konnte er durch das Fenster entwischen, als wäre er gerade noch mit seinem Leben davongekommen, und eine Euphorie durchzuckt ihn, es scheint ihm, als müsse er tanzen, und er hüpft bergauf, geradewegs in ein Gefühl des Glücks, das er in dieser Intensität einzig aus seiner Kindheit kennt, als er hinter seinem Vater im Frühling auf dem Eis lag, den Ellbogen, den Arm, die Hüfte und das Bein flach gegen die eisige Oberfläche gepresst, in kurzer Entfernung zu einer Ringelrobbe, die in der Sonne schlief. Als sie erwachte und Keyis Vater sah, steckte dieser seinen rechten Arm unter den Rumpf, verbarg seine Hand unter der Hüfte und imitierte ihre Haltung: Er zog das rechte Bein unter das linke und kratzte mit dem linken Fuß auf dem Eis. Als die Robbe das Kratzgeräusch hörte, legte sie ihren Kopf wieder hin. Nun stützte er sich ein wenig auf und kroch ein paar Meter vorwärts. Wieder hob die Robbe ihren Kopf und sah misstrauisch in seine Richtung, sofort legte sich der Vater flach auf den Boden und kratzte das Eis, aber dieses Mal wirkte die Robbe beunruhigt, und er imitierte Robbenlaute, während er versuchte, sie dazu zu bewegen, ihn anzusehen, nur so würde sie sich beruhigen.
Langsam gewöhnte sich das Tier an seinen Anblick, und er konnte schneller auf dem Eis vorwärtsrutschen. Während er immer näher kam, schlug er mit der flachen Hand auf das Eis. Die Robbe, die sich mittlerweile sicher war, dass es sich bei Keyis Vater um einen Artgenossen handelte, reagierte gelangweilt auf das Geräusch, und als der Vater dies erkannte, sprang er leise, aber blitzschnell auf seine Füße und harpunierte sie.
Keyi beobachtete jede Bewegung des Vaters, er imitierte sie aus der Ferne, zuckte synchron mit dem Kopf und den Armen und Beinen. Wenn sie schlafen, erklärte der Vater, atmen Robben nicht, manchmal atmen sie mehrere Minuten lang nicht.
Sie atmen wieder, wenn sie aufwachen und ihre Augen öffnen.
Er habe das schon öfter beobachtet, fuhr er fort, während er die Haut der erlegten Robbe aufschlitzte, beim Öffnen der Augen bewege sich ihre Flanke, das müsse er, Keyi, sich merken, denn so könne er abschätzen, wann die Robbe ihn das nächste Mal ansehen werde. Beobachte das Licht, sagte er, das vom dunklen Fell reflektiert wird, wenn sie atmet, ist es so, als würde sie zu mir sprechen und ich zu ihr und ich würde sagen, leg dich hin. Wenn du es richtig machst, sagte er, ist es fast so, als würdest du das Tier kontrollieren.
Drei Winter später jagte sein Vater zum
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