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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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vielleicht, dachte sie, folgt ihr Leben einem anderen Rhythmus, einem, den wir nicht wahrnehmen können, weil wir nicht lange genug auf der Welt sind, vielleicht, dachte sie, ist eine ihrer Sekunden so lang wie ein Menschenleben, und sie lächelte, während sie durch das Labyrinth ging, nichtsahnend, was sich hinter dem nächsten Stein verborgen hielt, denn auch auf Zehenspitzen schaffte sie es nicht, sich einen Überblick zu verschaffen.
    In Amarâq herrschen andere Größenverhältnisse: Die Steine sind riesengroß, die Pflanzen winzig klein, so klein, dass man sich hinknien muss, um sie zu sehen –
    doch drückt man die Nase gegen die Erde, sieht man etwas, das man Wälder nennen könnte, Wiesen, Steinwüsten, Sandbänke und Schneefelder, die niemals schmelzen. Hier, an dieser Stelle, markierte sie mit ihrer Stimme den Wind, in der Nähe der Steintürme, Wegweiser für Verirrte, bis eines Tages, die Lieder klangen noch nach, ihre Brüder aus dem Nichts auftauchten und sie, ohne Niels zu fragen, mitnahmen.
    Sofie gähnte, einmal, zweimal, doch noch wollte Inger nicht, dass sie einschlief, sie sollte etwas länger zuhören, nur etwas länger, und sie schüttelte das Kind sanft an den Schultern, so dass es sich auf die Seite drehte und ihr erneut in die Augen sah.

2    Die Nächte in Amarâq sind eine undurchdringliche schwarze Masse, sie sind das, was man sich unter dem Nichts vorstellt, das Bild, an dem das Auge versagt. Und für einen kurzen Moment könnte man glauben, tot und dennoch zu sein: sich am anderen Ende des Lebens zu befinden, an einem Punkt, der noch nicht existiert, der erst seine Existenz finden muss, vielleicht müsste man sagen vor der Geburt , doch von einem mystischen Urzustand kann keine Rede sein, diese Finsternis ist konkret, sie ist fast greifbar, so dicht ist sie, solch ein Dickicht. Tag und Nacht sind nicht der gleiche Ort, nicht in Amarâq.
    Als Kind zählte Keyi nicht die Tage, sondern die Nächte, nach der Jagd, wenn Geschichten von Mund zu Mund wanderten, in ähnlicher Form wieder auftauchten, dieselben Helden, dieselben Monster, und vor allem eine prägte sich ihm ein, die Geschichte von der Entstehung der Welt. Die leere Nacht füllte sich mit einem Schlag, als die Erde vom Himmel fiel, und mit ihr fielen die Berge, Hügel, Täler, Flüsse, Seen und Steine, sie fielen und landeten in der Dunkelheit. Schließlich krochen aus dem Erdinneren Menschen, die anfangs weder gehen noch sprechen konnten, nur essen und um sich treten, und die nicht wussten, wie man starb, denn damals, in diesen fernen Nächten, gab es keinen Tod. Als aus den wenigen Menschen zu viele geworden waren, stimmten sie zwischen Nacht und Unsterblichkeit und Tag und Sterblichkeit ab, als wäre es allein die Sichtbarkeit, die sterblich macht, und die Mehrheit stimmte für den Tag. Die Worte wurden ausgesprochen, und die ersten starben, doch sie wussten nicht, wie man es richtig tat, sie steckten ihre Köpfe aus den Steingräbern, den Steinhaufen, die man über ihnen aufgeschichtet hatte, im Versuch, sich aufzurichten und wegzugehen, und sie mussten in ihre Gräber zurückgestoßen und mit Worten gebannt werden, mit Magie.
    Zusammen mit dem Tag entstand die gezähmte Nacht mit den Sternen und dem Mond, und Keyi meint, einmal gehört zu haben, die Seelen toter Menschen würden zum Himmel fliegen und zu Sternen werden, und er wundert sich, dass er heute, in diesem Augenblick, an diesen Satz denken muss, und mehr noch, dass ihm dabei die Stimme seiner Großmutter einfällt, die diesen Satz sprach, während sie Milch auf dem gekochten Walfleisch verteilte, um den Lebergeschmack zu vertreiben, eine Stimme, an die er sich nicht mehr zu erinnern glaubte –
    die Nächte in Amarâq sind Speicher für alles Vergessene, Vergrabene. Im Moment des Vergessens wird die Erinnerung unsichtbar, nur um später zurück auf die Erde zu fallen, blitzartig, am anderen Ende des Lebens.
    Ole, der sich ursprünglich deshalb mit Magnus angefreundet hat, weil dieser einen Fernseher besitzt, so groß wie ein Altar und ebenso reich verziert, mit Porzellanfiguren (einer Balletttänzerin, einem Hirten und seinem Schaf) und Plastikrosen, die sich den Standfuß entlangwinden, weniger ein Gerät als vielmehr ein Ausblick auf eine Welt, die es, so schien es Ole zunächst, in dieser Form gar nicht geben konnte: wundersam, zugleich unendlich hässlich und voll –
    und anfangs verlief er sich im Fernsehbild, die Gesichter dieser fremden Menschen nahm er

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