Anatomie Einer Nacht
gebührendem Abstand, Mads, doch er biegt ab, ehe sie ihn begrüßen kann. Es scheint ihr, als würde er seinem entlaufenen Schatten folgen, als werfe Mads den Schatten eines Hundes.
Amarâqs Schönheit, die sich, unzugänglich, wie sie ist, den Blicken eher entzieht als präsentiert, ist eine unheimliche, da sie die Augen ständig in die Irre führt. Nichts ist sicher, nicht in dieser Stadt, die mit jedem Lichteinfall, mit jedem Wolkenzug ihr Aussehen verändert, im Grunde ist sie nicht dazu da, um angesehen zu werden, sondern sie ist ein Kommentar: Sie spricht in Bildern, die sie einem vorsetzt und von denen sie erwartet, dass man sie versteht, und wenn nicht, werden sie einem verständlich gemacht, indem die Pläne, die man gerade noch schmiedete, durchkreuzt werden –
totaler Widerspruch, Einspruch.
Aber nachts, wenn das willkürliche Licht schläft, wenn es sich reduziert auf ein Flimmern, Glimmen, das im Nichts oder durch einzelne Häuser schwebt, in Fensterkäfigen vor sich hin leuchtet, entwischt sie doch, die Unheimlichkeit, die die Stadt infiltriert hat, und unverdeckt, diesmal völlig unverdeckt, enthüllt sie einen Teil der Wahrheit: Dass in jedem Aufblitzen des Himmels an wolkenfreien Tagen, im Dunkelblau, so tief, dass man darin versinken möchte, würde man sich nicht rechtzeitig abwenden und die Augen schließen, ein Blau, das mit jedem Blick näher kommt und nach einem greift –
dass in den Wirbeln, Strömen, die die Wolken verschieben, die Wolkenherde antreiben, so dass sie sich mal in der einen, mal in der anderen Ecke des Himmels, der in diesem Moment ein langgezogener, schmaler Quader ist, nichtsdestotrotz ein Quader, also seine Unendlichkeit zugunsten der Vorspiegelung von Endlichkeit aufgegeben hat –
dass in der Nacht, die jeden überzieht, der es wagt, sie zu betreten, Sätze liegen, Antworten, und dass es möglich ist, sie zu verstehen.
Inger bleibt stehen und lauscht.
Keyi wird durch die Person, die aus Malins Fenster steigt, in seinen Gedanken unterbrochen. Er erkennt in ihr Per, dem er, vor vielen Jahren, als dieser vom Waisenhaus ausgerissen war, Unterschlupf gewährte, in einer Hütte, die aus einem Raum und zwei Fenstern bestand, die beide auf den Fjord blickten, und wenn er sich aufrichtete, stieß er an die Decke, obwohl er eher schmächtig und klein ist. Die Bretter hielten sich gerade noch in der Verankerung, ihre Farbe war abgeblättert, Feuchtigkeit lebte und wuchs in ihnen, und wenn er über ihre Oberfläche strich, fühlte sie sich samtig an, weich, als wäre ihnen in all der Zeit ein Fell gewachsen, eines Tages würde es aufstehen, das Lebewesen, und fortgehen. Die Nägel steckten kaum noch in den Löchern, sie vollführten eine Geste, und wenn man sie nicht beobachtete, sprangen sie ab und in die Freiheit, die sich unter ihnen befand, im Sommer ins Gras, im Winter in den Schnee und auf das Eis, so machten sie sich davon, einer nach dem anderen, so dass Keyi sie zusammensuchen und neu einschlagen musste, damit die Hütte ihn und Per nicht unter sich begrub.
Per, das erwachsene Kind, war eines Tages auf seinem Holzboden gesessen und hatte aus seinem Becher Wasser getrunken. Er hatte nicht aufgesehen, auch nicht, als ihn Keyi gegrüßt hatte. Sie sprachen in den drei Monaten, die sie zusammenlebten, kaum miteinander, denn Per, oder, wie Keyi ihn nannte, das Kind, schien sich vor Wörtern zu ängstigen, er sprach jeden Satz mit Furcht aus, in einem Flüsterton, als könnten sich die Worte, in die Luft entlassen, umdrehen und ihn verschlucken. Keyi wusste nicht, wie es war, in einem Waisenhaus zu leben, er hatte Geschichten gehört, Gerüchte, er hatte Geschichten, Gerüchte über Per gehört, hatte gehört, der Kleine habe versucht, das Haus einzuäschern, er habe gezündelt und alle Kinder seien im Feuer verbrannt, tatsächlich war das Heim im selben Jahr, als Keyi nach Amarâq zurückgekehrt war, neu gestrichen worden, in einem hellen Blau, als wollte man jede Assoziation mit Feuer verhindern. Man erzählte sich außerdem, Per habe die Tür, durch die die Kinder hätten entkommen können, mit einem Holzbalken verbarrikadiert, so dass man, als man die Rufe aus den offenen Fenstern hörte, nichts tun konnte als zuzusehen, wie alle verbrannten. Per selbst, munkelte man weiter, hätte durch den Hintereingang fliehen können, doch als der Brand gelöscht war und man feststellen musste, dass ausschließlich die Erwachsenen überlebt hatten, die zwei Alten, die die Kinder
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