Anatomie Einer Nacht
hineinzuspähen, doch noch immer waren sie ihm fremd. Auch etliche Tage später, als er auf das nächste Schiff verfrachtet wurde, um von Amarâq aus nach Nuuk und von Nuuk nach Kopenhagen zu seinen Großeltern zu reisen, die sich bereiterklärt hatten, ihn bei sich aufzunehmen, leugnete er, dass es sich bei den Toten um seine Eltern handelte, obgleich er, gerade als er sich hatte abwenden wollen, aus den Augenwinkeln das Gesicht des Toten als das des Vaters erkannt hatte, dessen papierene Haut.
Der Pathologin kam in diesem Familiendrama die Rolle zu, Edvard Mørch als Täter auszuschließen. Es konnte nicht sein, dass der Däne Mørch seine Frau erschossen und sich dann selbst gerichtet hatte. Politisch korrekt war die These, dass Kunna Mørch ihren Mann getötet und sich dann selbst umgebracht hatte (an einen Doppelselbstmord dachte man gar nicht erst). Die Aufgabe Kristina Olsens war es, diese Theorie zu bestätigen und möglichst mit Beweisen zu untermauern.
Der Tatort ließ nicht viele Möglichkeiten zu: eine in der Mitte des Fjords schaukelnde Barke, Kunna im Schiffsbauch, der rechte Lungenflügel von zwei Schüssen zerfetzt, Edvard am Steuerrad, eine Kugel im Kopf. Dass ein Außenstehender das Boot geentert und den Besitzer und seine Frau ermordet haben könnte, war unrealistisch, da das Motiv fehlte. Es schien nichts gestohlen worden zu sein, auch waren keine Spuren zu finden, die auf einen Eindringling deuteten. Den Verletzungen nach zu schließen, so die Pathologin, war beides möglich, dass Edvard zuerst Kunna, aber auch Kunna Edvard ermordet hatte, um danach sich selbst zu erschießen. Sie sprach sich allerdings für die erste Möglichkeit aus, da es unwahrscheinlich war, dass sich Kunna selbst zweimal in die Lunge geschossen hatte, zumal sie, eine Schönheit unter den Frauen Qertsiaks, schlank, langgliedrig, von zierlicher Statur und mit einem ovalen Gesicht mit runden, fast schwarzen Augen, nicht einmal wusste, wie man eine Waffe bediente. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie zweiunddreißig Jahre alt, fast zwanzig Jahre jünger als Edvard, und hatte, da sie ihn schon mit sechzehn geheiratet und danach gleich Konrad geboren hatte, weder vom Haushalten noch von anderen praktischen Dingen eine Ahnung –
obwohl Edvard ihr und ihrem Sohn Privatunterricht gegeben hatte. So trug sie auch den Beinamen: die alles hat, aber nichts kann.
Kristina Olsens Bericht wurde in Kopenhagen begraben, so erfuhr Konrad nie, wie und unter welchen Umständen seine Eltern gestorben waren, zunächst schien er sich auch nicht dafür zu interessieren, er war zu sehr damit beschäftigt, die Möglichkeiten, die ihm die vollkommen fremde Welt bot, auszuschöpfen. Da er Schwierigkeiten hatte, Freundschaften zu schließen, streunte er Nacht für Nacht allein durch die Stadt und steckte seine Nase in alles, was es zu entdecken gab. Dabei geriet er oft in eine Schlägerei, die er entweder unabsichtlich auslöste oder in die er verwickelt wurde, weniger unfreiwillig, als er behauptete. Die Großeltern, die Konrad das letzte Mal als Kleinkind gesehen hatten, konnten nicht viel mit ihm anfangen, zumal sie sich ihren Enkel wohlerzogen und sittsam vorgestellt hatten und dieser sich als Rüpel entpuppte, mit Manieren, die sie mit einem Ort wie Qertsiak assoziierten. So waren sie nicht traurig, als Konrad schon nach wenigen Monaten verkündete, er habe ein Mädchen kennengelernt, mit dem er zusammenziehen wolle. Die Großeltern, trotz ihrer Neigung zur Dünkelhaftigkeit großzügig, mieteten dem jungen Paar eine Wohnung in der Nähe von Schloss Rosenborg und überwiesen ihm monatlich Unterhalt unter der Bedingung, den Namen Mørch so wenig wie möglich zu benutzen und mit Beginn der Volljährigkeit für sich selbst zu sorgen.
Wenige Monate später verschwand Konrads Freundin Line aus der gemeinsamen Wohnung, und ihre Eltern, die gegen ihren Auszug gewesen waren und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatten, um dies zu verhindern, sogar die Großtanten und Großonkel waren eingeschaltet worden, um der Abtrünnigen zuzureden, beschuldigten Konrad, ihr Kind ermordet zu haben. Diese Anschuldigung führte zu einer polizeilichen Untersuchung, die ohne Ergebnis blieb, allerdings bewirkte, dass der Beschuldigte nicht mehr in der Schule auftauchte und niemand wieder von ihm hörte, bis er vierundzwanzig Jahre alt war.
Er verzichte auf die Hilfe seiner Familie, erklärte er bei der Testamentseröffnung, nachdem beide Großeltern im Abstand von
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