Anatomie Einer Nacht
des Krieges verkündet wurde, packte sie ihre Sachen und fuhr, mit dem bisschen Geld, das sie gespart hatte, nach Holte, um Emil abzuholen –
doch bereits in der Eingangshalle wurde sie abgewimmelt. Emil habe Scharlach, sagte man ihr, er könne nicht mit ihr nach Amarâq zurückkehren, er müsse in Dänemark bleiben, und sie wurde aus der Halle, aus dem Gebäude geschoben, sie schwieg zu alldem, versuchte sich so zu verhalten, wie man es ihr in diesem Land beigebracht hatte, aber vor der verschlossenen Tür brach es aus ihr heraus, sie fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören, so dass man sie, nachdem man sie vergeblich zu besänftigen versucht hatte, in eine Zwangsjacke steckte und in die psychiatrische Abteilung des Universitätskrankenhauses in Kopenhagen einlieferte, wo sie dreizehn Monate lang eingesperrt wurde, zu ihrer eigenen Sicherheit und der des Kindes, wie es hieß, und sie durfte ihren Sohn weder sehen noch sprechen. Kurz vor ihrer Entlassung sagte man ihr, dass er vom Ehepaar Møller adoptiert worden sei und sie ohne ihn das Land verlassen müsse, dafür werde ihr die Überfahrt bezahlt.
Im Juni 1946 ging Laerke an Bord, noch auf dem Pier sah sie sich ständig um in der Hoffnung, die Møllers hätten es sich überlegt und würden ihr den Sohn zurückbringen, aber niemand kam. Emil hingegen verbrachte Jahrzehnte damit, auf die Einlösung eines Versprechens zu warten. Als er endlich einsah, dass er nicht länger ausharren konnte, sondern handeln musste, nutzte er seine Verbindungen in Kopenhagen, um seine Mutter ausfindig zu machen. Es dauerte nicht lange, bis er ihre Adresse hatte und sie anschreiben konnte, doch sie beantwortete keinen seiner Briefe. Daraufhin wandte er sich an die Behörde in Amarâq, die ihm mitteilte, sie sei vor kurzem gestorben, es sei ein bedauerlicher Unfall gewesen. Unfall, tobte er, was für ein Unfall?, und ließ nicht locker, bis man versprach, den Fall zu untersuchen und ihm, einem Arzt, den gerichtsmedizinischen Befund zu schicken.
Mikileraq sieht sich nicht um, sie rennt, so schnell und weit sie kann, zunächst ohne sich zu orientieren, sie flieht blind –
bis sie sich etwas beruhigt und in eine Richtung zu laufen beginnt: nach Hause.
Sie hastet an den Ufern des Fjords entlang, von weitem sieht sie schon das gelbe Krankenhaus, erst jetzt dreht sie sich um, erst als sie glaubt, keine Schritte mehr hinter sich zu hören.
Sie bleibt stehen, um Atem zu holen.
Zaghaft wendet sie den Kopf. Fast rechnet sie damit, dass Per hinter ihr steht, und sie glaubt, diesmal darauf vorbereitet zu sein, sich verteidigen zu können, ihn zu treten, zu schlagen, am besten ins Gesicht oder in den Bauch, und sie verlagert ihr Gewicht auf das linke Bein und hebt das rechte ein wenig an.
Niemand.
Sie atmet aus und im ersten Moment glaubt sie lachen zu müssen, sie ist glücklich vor Erleichterung, auch tritt ein Geräusch aus ihrem Mund, das dem Lachen ähnelt, dann aber bemerkt sie die Nässe auf den Wangen. Sie wischt die Tränen mit dem Jackenärmel ab, ihre Beine geben nach, und sie muss sich setzen –
als es hinter ihr knackst und sie aufspringt und, ohne sich umzusehen, losrennt, im Grunde weiß sie, dass er die Verfolgung aufgegeben hat, sie weiß, dass er ausschließlich Geld von ihr wollte, doch sie spürt noch seine Hände, und sie versucht, seine Berührungen mit Luft abzuwaschen, mit Luft und Kälte, und sie lässt die Jacke offen, denn sie möchte den Wind spüren, sich ganz durchlüften lassen.
Vor ihrem Haus bleibt sie stehen. Die Holzfassade blau, das Dach schwarz. Fünf Stufen zur Veranda mit Majas Spielsachen, zu der Hütte, in der Jørn seine Gewehre und Messer verstaut hat. Im Haus brennt kein Licht, ihr Mann und Maja schlafen, aber sie kann nicht anders, als sich einzugestehen, dass ihre Familie unvollzählig ist, dass sie ein Mitglied, ein Kind, ihr Kind, verlassen, im Stich gelassen hat –
und sie ist davon überzeugt, dass Per ihr Sohn ist.
2 In Amarâq wird, mehr als anderswo, die Existenz davon bestimmt, was man besitzt. Armut, der Mangel an Besitz, verkürzt, als verringerte Existenz, die Lebenserwartung. Besitz ist hier tatsächlich die Erweiterung des Menschen, die Erweiterung seiner Fähigkeiten zu überleben. Hunger als die elementarste Ausprägung von Armut (eine untrennbare Einheit in Amarâq: Armut und Hunger) ist ein täglicher Tod. Hungert man, ist man bereits dabei zu sterben.
Besitz in Amarâq ist grundsätzlich
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