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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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übersichtlich, selbst Reichtum ist nicht Überfluss, sondern die vergrößerte Auswahl. Armut ist gefährlich, weil sie keinen Schutz vor der Natur bietet, sondern an sie ausliefert. Besitz existiert, um Zukunft zu lukrieren; anders gesagt, erwirbt man Besitz, erwirbt man Zukunft. Sein und Haben bilden eine unumstößliche Verbindung, sie bedingen einander, Nichthaben ist somit Nichtsein, Haben somit Sein. Doch nicht nur Gegenstände oder Geld zählen zum Besitz, auch Freunde, Familie, Zuneigung und Liebe, die Fähigkeit, zu lieben sowie geliebt zu werden, und schließlich der geliebte Mensch selbst. Einsamkeit ist vollkommene Not, denn sie bedingt auch materielle Knappheit.
    Das Einzige, das nicht besessen werden kann, ist Natur. Land und auch Tiere, die erlegt werden, sind kein Besitz, sondern etwas, das die Natur freiwillig gibt, ein Geschenk. Und sie gibt sie her, weil etwas im Gegenzug dargeboten wird: das eigene Leben. Dies ist ein Grundsatz, eine Lebensanschauung. Niemand aus Amarâq würde dieses Gleichgewicht stören, niemand käme auf die Idee, aus Spaß zu töten.
    Laerkes Haus steht in einem anderen Jahr. In ihm und um es ist noch immer 1994, auf dem Tisch liegen gefaltete Stoffservietten, eine rote Kerze in einem goldenen Kerzenständer und ein Nähkästchen aus Pappe unter einer Staubschicht, das Bett ist noch zerwühlt, die Decke nicht aufgeschüttelt, aber in den Glühbirnen zerplatzten mit der Zeit die Drähte, einer nach dem anderen.
    1994 war das Jahr, in dem man sie fand, einige Meter von ihrem Haus entfernt, zwischen den menschenhohen Steinen, das Gesicht blutig, die Nase gebrochen, der Körper vollkommen durchgefroren, nicht leichen-, sondern kältestarr. Die Pathologin aus Kopenhagen, die eingeflogen wurde, um Laerkes menschliche Überreste zu untersuchen, schloss Mord nach eingehender Untersuchung aus und rekonstruierte den Tathergang folgendermaßen: Laerke müsse in einen Kampf verwickelt gewesen sein, an den Armen und Händen stellte Kristina Olsen Kratzspuren und Abwehrverletzungen fest. Vermutlich hatte sich die alte Frau gegen den Angreifer gewehrt, der sie jedoch ins Gesicht geschlagen und ihr die Nase gebrochen hatte, dabei war sie gestrauchelt und zu Boden gefallen. Bei diesem Sturz war sie mit dem Kopf auf die vereiste Erde geschlagen und bewusstlos geworden. Anstatt jedoch die Frau ins Warme zu schaffen und wiederzubeleben oder einen Arzt zu rufen, erklärte die Pathologin, habe sich der Angreifer aus dem Staub gemacht und die Hilflose ihrem Schicksal überlassen. Laerke Ertaq sei erfroren, sagte sie, ein sinnloser Tod, sagte sie, sie hätte nicht sterben müssen, die Verletzungen, die sie sich zugezogen hatte, die Beule am Kopf und die gebrochene Nase wären sicher verheilt, sie hätte ihr altes Leben wiederaufnehmen und sich um ihr Pflegekind kümmern können.
    Kristina Olsen war in Begleitung ihrer fünfzehnjährigen Tochter Malin gekommen, die sich fortwährend nach ihrem Vater erkundigte, der während des gesamten Aufenthaltes unauffindbar blieb, so dass man schließlich mutmaßte, er sei auf der Jagd, in diesem Fall könne man nicht sagen, wann er wiederkommen würde, aber, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, das letzte Mal sei Keyi als Kind auf der Jagd gewesen.
    Nachdem Kristina ihre Ergebnisse dem Bürgermeister, seiner Sekretärin und einigen Neugierigen mitgeteilt hatte, die gerade in diesem Augenblick ihre Köpfe in den Dienstraum steckten, packte sie das Original des Berichts in ihre Aktentasche, drückte das Duplikat dem Bürgermeister in die Hand und verabschiedete sich mit einem knappen Nicken. Dabei ließ sie ihre Augen über die Reihe der Unbekannten streifen auf der Suche nach einem bestimmten Gesicht, das sie, wie sie meinte, vor langer, langer Zeit das letzte Mal gesehen hatte, es war ihr abhanden gekommen, fast hatte sie das Gefühl, es verloren zu haben, weil sie nicht gut genug darauf geachtet hatte, nun sah sie die Fremden an, musterte sie, aber bloß im Vorbeigehen, denn sie würde niemals zugeben, damals einen Fehler begangen zu haben.
    In diesem Sommer musste Ole das erste Mal seine Sachen packen, eine Plastiktasche mit Kleidern, Schuhen und seinem Spielzeug füllen und vor der Haustür warten, bis er in sein neues Heim, das Haus seiner Eltern gebracht wurde, die ihn ursprünglich Laerke geschenkt hatten.
    Sein altes Zuhause sah er von diesem Tag an nicht wieder, und auch später mied er es.
    Kristina Olsen war das letzte Mal vor siebzehn Jahren in

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