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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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zurechtkommen würde, doch Alice tauchte jedes Mal wieder auf, manchmal nach drei, manchmal nach fünf Wochen –
    von diesem Jagdausflug aber, der in die Woche fiel, als Sara fünf Jahre alt wurde, kehrte Alice nicht mehr zurück. Sie blieb verschwunden, und man suchte nicht einmal nach ihr, denn man würde sie nicht finden, nicht in dieser Weite und Leere, in der Amarâq ein Inseldasein führte.
    Alices Nachbarin brachte Sara zu ihrer Tante, die damals neben dem Hotel Amarâq in einem kleinen Häuschen mit ihren zwei Söhnen lebte. Sara und ihre Cousins spielten morgens, vor Schulbeginn, und abends, nach Schulende, immer draußen, vor dem Haus, ihre Spielsachen lagen zwischen den Gräsern verstreut, und weil es nicht viele waren, gingen sie auch nicht verloren –
    bis eines Tages das Ehepaar Lund auftauchte und einen Nachmittag mit Sara verbrachte, ihr half, die Puppe an- und auszukleiden, wobei sich ihr Mitleid, das sie von Beginn ihrer Reise nach Grönland an begleitet hatte (denn es war Mitleid gewesen, das sie überhaupt dazu bewogen hatte, Amarâq aufzusuchen), in Liebe verwandelte, nicht in eine selbstlose Liebe, sondern in eine, die nicht nur an Bedingungen geknüpft war, sondern in der vor allem die eigene Eitelkeit ausgelebt werden sollte, die Selbstgefälligkeit des Wohltäters. Ohne zu fragen, mit aller Selbstverständlichkeit, nahmen sie Sara an der Hand und mit nach Kopenhagen, wo das Mädchen bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr als Adoptivtochter Sara Lund lebte. Und sie sollte über Umwege erfahren, dann aber mit aller Unerbittlichkeit, was ihren Großeltern zugestoßen war, und ihr wurde verschwiegen, dass ihr Vater sich selbst getötet hatte, lediglich vom geheimnisvollen Verschwinden der Mutter, der Halbwilden, hörte sie hin und wieder, und in ihrer Vorstellung wuchsen das Bild der Mutter und Amarâqs zusammen und bildeten eine Sehnsucht, in der Ferne zum Synonym für Heimat wurde.
    Das Telefon klingelt, Lars sieht nach, es ist Magnus.
    Hej.
    Keine Antwort, aber ein Rauschen.
    Hej, alles in Ordnung?
    Immer noch Rauschen, aber keine Antwort. Lars möchte auflegen, als er doch eine Stimme hört: Magnus.
    Wenn wir die Schnur mit einem Handtuch polstern, sollte es nicht wehtun.
    Wird es dann nicht zu eng?
    Dumme Frage. Es soll doch eng anliegen.
    Kurzes, ausgehustetes Lachen.
    Wir wickeln das Handtuch um die Schnur, so rutscht es nicht heraus, und die Schnur befestigen wir am Bettpfosten, hab ich doch schon gesagt.
    Am Bettpfosten?
    Ja. Es sollte auch im Liegen klappen.
    Kurze Stille.
    Das ist bequemer.
    Lars drückt auf die Auflegetaste, er spürt sie unter seinem Zeigefinger, sie wird unter der Fingerkuppe größer, härter, und er muss sich zwingen, kräftig zuzudrücken.
    Bettpfosten, Schnur, Handtuch. Das Gespräch, das er belauscht hat, beunruhigt ihn. Er geht in die Küche, setzt Wasser auf, greift nach einem Beutel Schwarztee. Bettpfosten, Schnur. Es sollte auch im Liegen klappen . Das Wasser kocht, es brodelt unter dem Plastikdeckel. Er nimmt die Kanne vom Untersatz, begießt den Beutel gleichmäßig von allen Seiten. Er weiß, dass er weiß, worüber sie sprachen, Magnus und Ole, er hat das Wissen bloß noch nicht gefunden. Er sieht sie vor sich, wie sie in Magnus’ Dachkammer sitzen, Mondlicht fällt durch das schräge Fenster auf den Teppich, der so abgenutzt ist, so abgetreten, dass der Flor wie abrasiert scheint, ein gezähmter Teppich, fällt ihm in diesem Moment ein, so müsste sich ein gezähmter Teppich anfühlen, und er muss über den Gedanken lächeln, als ihm mit einem Schlag klar wird, was die zwei meinten, als sie sagten: Es sollte auch im Liegen klappen –
    er lässt seine Tasse stehen, schnappt im Hinauslaufen seine Jacke und beginnt den Berg hinunterzurennen.
    Im Fenster beobachtet Sara den Schatten eines Mannes, der die Straße in Richtung Hafen läuft. Er zerfließt zwischen den Häusern, als hätte ihn die Dunkelheit verdünnt, ihm alles Körperhafte geraubt, wäre nicht der Monolog der Schuhe, das Treten der Erde und Steine mit den Absätzen, ein hartes, scharrendes und schabendes Geräusch, das allein daran erinnert, dass es sich um ein Lebewesen aus Fleisch und Knochen handelt –
    und nicht um einen Geist.

3    Ein Jahr vor Saras Geburt wurden Per und Poul geboren, Per in Amarâq, Poul in Ittuk. Kurz nach Pouls Geburt zog sein Vater Boas mit ihm nach Amarâq, um in der Hauptstadt zu leben, wo innerhalb weniger Jahre baufällige Häuser repariert oder neu

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