Anatomie Einer Nacht
Amarâq gewesen, als man die Leichen eines Ehepaares in Qertsiak gefunden hatte: Das Besondere an diesem Doppelmord war, dass der Mann, Edvard Mørch, der einzige Däne und Schulleiter im kleinen Ort Qertsiak in den Siebzigerjahren war, als es im Osten des Landes außer Amarâq und Ittuk noch etliche kleine und kleinste Siedlungen gab, die die Küstenkarte gepunktet hielten, die Welt damals war noch etwas größer und weniger ein Ende.
Edvard und Kunna hatten einen Sohn, Konrad, 1977 gerade sechzehn Jahre alt und auf Jagdausflug mit seinen Freunden, sonst gab es keine Verwandten, weder in Qertsiak noch in Amarâq oder in Ittuk. Die Freunde, die wie jeden Freitagabend zum Karten spielen und Abendessen gekommen waren, fanden ein leeres Haus vor. Die Tür war wie immer angelehnt, doch es war so still, dass sich Stine und Vittus wunderten. Kein Essen, die Küche leer, über den Räumen lag etwas Verschwiegenes, und Stine und Vittus gingen nicht, sondern schlichen von Zimmer zu Zimmer, schließlich in den ersten Stock, und während sie sich auf Zehenspitzen durch die Wohnräume bewegten, hatten sie das Gefühl, sie drängen unerlaubterweise ein, und doch stöberten sie weiter –
vielleicht war es das Verbotene, das sie reizte, vielleicht war es auch das Unheimliche, das in der Luft lag und sie dazu trieb, weiterzusuchen, vielleicht war es die Sorge um ihre Freunde, sie gaben nicht auf und sahen sich weiter um. Nichts. Das Haus war leer. Edvard und Kunna blieben unauffindbar.
Stine und Vittus gingen zum Hafen und hielten Ausschau nach Edvards Boot; es fehlte. Einigermaßen beruhigt kehrten sie nach Hause zurück und vergaßen Edvard und Kunna. Erst am Montag, als die Schule öffnete und man die Abwesenheit des Schulleiters feststellte, sein Fehlen von Mund zu Mund auffälliger und eigenartiger wurde, schwärmte man in den eigenen Booten aus, um an den Stellen, von denen man wusste, dass sie Edvards Lieblingsorte waren, nach dem verschollenen Ehepaar Ausschau zu halten. Diesmal wurde man fündig: In der Bucht, von der man sagte, sie beherberge einen großen Schwarm Seelachse, die sich besonders gerne fangen ließen, schaukelte Edvards Boot, im Grunde ein kleines Schiff, zweistöckig, und in seinem Bauch fand man das Ehepaar Mørch, erschossen, die Angelschnur noch zwischen Kunnas Fingern.
Konrad, der Samstagabend zurückgekommen war, hatte sich nichts dabei gedacht, dass seine Eltern nicht zu Hause waren, sondern die Gelegenheit genutzt und seine Freunde zu sich eingeladen, und sie hatten von Samstagabend bis Sonntagnachmittag gefeiert und waren erst Montagmorgen nach Hause getorkelt, betrunken von Edvards Weinen und Schnäpsen, die er kistenweise aus Kopenhagen einfliegen ließ.
Als am Montag um die Mittagszeit die Leichen Edvards und Kunnas in einer langen Prozession den Hügel zu deren Haus hinaufgebracht wurden – denn dort wollte man sie untersuchen, ein Krankenhaus gab es nicht in Qertsiak, und in der Schule sollte trotz der Todesfälle der Unterricht weitergehen (zudem bestand sie lediglich aus drei Räumen, dem Klassenraum, dem Lehrerzimmer und dem Pausenraum) –, spähte Konrad, voll schlechtem Gewissen, aus dem Fenster. Er meinte, die beiden leblosen Personen müssten ihm bekannt vorkommen, trotz des Blutes, trotz der Schusswunden, doch er verband sie nicht mit seinen Eltern, auch nicht, als er ihnen gegenüberstand, weil man es nicht hatte verhindern können, dass er sich zum Leichenzimmer und bis zu den Toten vordrängte.
Ihm blieben sie fremd, obwohl er die Armbanduhr seines Vaters am Handgelenk des Mannes entdeckte und ihm auffiel, dass die Frau die Haare in der gleichen Art und Weise hochgesteckt hatte wie seine Mutter, in einem runden Knoten, der auf ihrem Kopf wie ein Nest saß. Sie blieben Unbekannte für ihn, auch dann noch, als Vittus, der in Edvards Abwesenheit die Schule, somit die Führung des Dorfes übernommen hatte, seinen Vater eindeutig identifizierte, selbst da schüttelte Konrad entschieden den Kopf und sagte, er sehe diese Menschen zum ersten Mal.
Am nächsten Tag legte man die Leichen in Ermangelung eines Kühlraumes in die großen Holzkisten im Ort, in denen üblicherweise die erlegten Robben, die Futtertiere für die Schlittenhunde, aufbewahrt wurden, bis der Pathologe aus Kopenhagen ankommen würde (man erwartete einen Mann, keinesfalls eine Frau), und Konrad konnte nicht anders, als in der Nacht, ausgerüstet mit einer Taschenlampe, zu den Kisten zu schleichen und
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