Anatomie Einer Nacht
wenigen Monaten gestorben und er als Alleinerbe übrig geblieben war, er habe sich stets an die Abmachung gehalten, er habe weder seinen Großvater noch seine Großmutter jemals um Geld gebeten, und auch die Wohnung, die sie ihm gemietet hatten, habe er an seinem achtzehnten Geburtstag geräumt. Im Übrigen verzichte er auf sein Erbe, wollte er hinzufügen –
als er die Summe sah, die der Notar auf ein Stück Papier geschrieben hatte, nach Abzug aller Steuern, und er sich seinen Stolz verkniff und die Erklärung, dass er sein Erbe antreten wolle, unterschrieb. Mit dem Geld finanzierte er sich seine Reise zurück, vorerst nach Qertsiak, dann Amarâq, in die Heimat, nach der er sich, seit er sie vor acht Jahren hatte verlassen müssen, sehnte, zunächst heimlich und ausschließlich in den Nächten, in denen er sich unbeobachtet gefühlt hatte, später öffentlich, mit aller Wut, die ihm zur Verfügung stand, mit einem Aufbegehren und einem Zorn, den er jeden spüren ließ, der seiner Meinung nach zwischen ihm und Grönland stand.
Nach seiner Abreise wurde Line gefunden. Sie war verheiratet, hatte zwei Kinder, verweigerte den Kontakt zu ihren Eltern und führte im Allgemeinen ein Leben, das daraus bestand, so unsichtbar wie möglich zu sein.
Als Konrad Alice kennenlernte, war er seit zwei Wochen wieder an dem Ort, den er im dänischen Exil Heimat genannt hatte, der ihm nun aber, nach acht Jahren Verbannung, fremder erschien, als es die Fremde zuletzt gewesen war. Alice hatte wie er einige Jahre in Dänemark verbracht, dort eine Ausbildung als Lehrerin begonnen, war aber in ihren Ferien nach Amarâq zurückgekehrt. Hier stellte sie fest, dass man ihr den europäischen Ausflug übelnahm und ihr mit Misstrauen begegnete. Sie streunte zwischen den Mahlzeiten, die sie zumeist mit ihrer Mutter und einer Schwester einnahm, allein in den Bergen umher, die sie noch immer liebte, da sie sie mit einer Zeit in Verbindung brachte, als es etwas gab, das sie Unschuld nannte.
Dass sich Konrad in Alice und Alice in Konrad verliebte, war unter den Umständen unvermeidlich. Sie hatten an diesem Ort, den sie untereinander als die Einöde , den Rand der Welt bezeichneten, eine verwandte Seele gefunden, und sie sprachen nicht miteinander, sondern wisperten, als steckten sie unter einer Bettdecke und könnten alles Verstörende mit dieser dünnen Stoffschicht fernhalten: Sie flüsterten, denn nur verwandte Seelen wollen flüstern. Im Grunde aber waren sie mehr als verwandt, ihre Seelen waren Reflexionen des jeweils Anderen, und sie hatten sich in diese Spiegelung verliebt, weil sie Trost versprach –
und hielt. Ein Blick, ein Wort waren wie eine Umarmung, ein Gespräch war wie das Zurücksinken in ein geborgenes Dasein, das sie so, in dieser Weise, nicht gekannt hatten, und sie stürzten sich in diese Liebe, weil sie nichts hinterfragte, weil sie nichts hinterfragen musste, sie waren im Grunde ein und dieselbe Person, sie hatten die gleiche Geschichte, die gleichen Geschichten erlebt, sie mussten einander lediglich die Anfänge erzählen, und der andere konnte sie fortsetzen, er würde sie um Details ergänzen, gewiss, aber bei diesen handelte es sich bloß um Nebensächlichkeiten; und sie stürzten sich in diese Liebe, da sie sie das sein ließ, was sie sein wollten –
bis Alice schwanger wurde, mit einem Mädchen, das den Namen Sara erhalten sollte, wie sie schon in den ersten Wochen ihrer Schwangerschaft entschied. Noch bevor der Säugling entbunden war, erschoss sich Konrad. Und Alice, die ihm und Sara zuliebe ihre Ausbildung abgebrochen hatte, lebte von diesem Zeitpunkt an vom Erbe der Familie Mørch: Sie verkaufte Edvards Haus, ließ Edvards Schiff renovieren, sie lernte, mit Konrads Hunden umzugehen, ihnen Befehle zu erteilen, sie von Kunnas Schlitten aus zu lenken, sie lernte zu schießen, in der Natur zu lesen, sie lernte den Umgang mit dem Messer, sie lernte, die Beute zu häuten, sie auszunehmen und zuzubereiten, und sie ging regelmäßig in die Wildnis, in der allein sie sich lebendig fühlte, seit sie den Schuss gehört und die Entdeckung gemacht hatte, die ihr Leben in einem Ausmaß beschädigt hatte, das nicht einzugrenzen war, denn täglich schien der Schmerz zu wachsen. Und sie blieb verschwunden für einige Wochen, niemand wusste, wohin sie ging, niemand folgte ihr, niemand bot ihr an, sie zu begleiten, sie war immer allein unterwegs, und anfangs hatte sich Alices Nachbarin Sorgen gemacht, ob ihre Freundin allein
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