Anatomie Einer Nacht
errichtet sowie quaderförmige Wohnblocks auf dem gefrorenen Boden aufgestellt wurden, Wohnsaurier mit niedrigen Decken und kleinen Fenstern, die die Wärme im Inneren gefangen hielten. Das weißglitzernde Verwaltungsgebäude, in dem Boas angestellt wurde, vervollständigte das Aussehen des modernen, frischgestrichenen Amarâq: einer Stadt, die einer Ansichtskarte Ehre machte. Die zweite Modernisierungswelle, die den Westen Grönlands bereits ein Jahrzehnt zuvor erfasst hatte, machte auch vor dem entlegenen Osten nicht halt, aber die Welle war bereits am Auslaufen, und der Osten blieb im Grunde wie er war, er wurde nur bunt, umfrisiert und neu besiedelt, mit Lehrern aus dem Mutterland, die als Hubschrauberladungen an Land gingen, Idealisten mit alten Ideen und Karrieristen mit neuen. Eines aber hatten sie alle gemeinsam, sie wollten Amarâq verbessern, denn so wie es war, war es unzureichend.
Der heimliche Vater: Bis er in die Schule kam, wusste Poul nicht, dass jedes Kind eine Mutter hatte, er hatte immer geglaubt, es wäre optional, denn niemand hatte ihm jemals von seiner erzählt. Boas der Stille, der seine Hunde immer nachmittags gegen zwei Uhr versorgt hatte, indem er dem Holzverschlag in der Mitte des Dorfes eine verwesende Robbe entnommen, ihr zunächst die Flossen abgeschnitten, sie danach zerteilt und stückchenweise den jaulenden, bellenden Hunden zugeworfen hatte, ließ seine Vergangenheit als Jäger in Ittuk zurück und zog mit seinem Sohn, einer Plastiktasche mit Kleidung und dem geflickten Stiefelpaar, das er seit zwanzig Jahren trug, nach Amarâq, wo eine kleine, neue Kastenwohnung auf ihn wartete, eine Küche mit Herd und Spüle sowie zwei leere Zimmer, die leer bleiben sollten bis auf eine Matratze und den Kleiderstoß, der in der Mitte des größeren Raumes lag, als warte er auf einen weiteren Umzug.
Boas war verlässlich, und als guter Jäger wurde er von allen respektiert, seine Meinung zählte, aus diesem Grund hatte man ihn in die Politik geholt, er sollte die Jäger Ostgrönlands vertreten, und ihm wurden Papiere vorgelegt, die er, obwohl er schreiben und lesen gelernt hatte, nur mit Mühe entziffern konnte. Manchmal verzweifelte er daran, denn es wollte ihm einfach nicht gelingen, die Wörter wichen zurück, je weiter er sich ihnen näherte, dann schob er die Buchstaben beiseite und starrte aus dem Fenster auf die Berge, und obwohl er den Fjord nicht sehen konnte, konnte er ihn spüren und riechen, und die Vorstellung wurde so stark, dass es ihm schien, er knie am Ufer, seine Hand sei in das kalte Wasser getaucht und er könne beobachten, wie die Wellen seinen Handrücken umspielten.
Alice musste ihn mehrere Male rufen, bis er reagierte. Sie brauchte seine Unterschrift, und da sie schon einige Stunden damit verbracht hatte, um das ihr zustehende Geld zu streiten, war sie kampflustig in sein Büro getreten, tatsächlich hatte sie ihn nicht gerufen, sondern angebrüllt, aber er hatte sie nicht gehört. Zunächst hatte sie das noch mehr geärgert, und sie war näher gekommen, dann hatte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkt und verstanden, und sie hatte nicht mehr geschrien, sondern geflüstert; in diesem Moment war Boas erwacht –
er half ihr mit den Formularen, danach ging sie in ihr, er in sein kahles Haus.
Wenige Stunden nachdem man die Vermutung ausgesprochen hatte, Alice sei verschollen, sie habe sich vermutlich bei der Jagd verletzt und sei gestorben, oder sie habe sich verirrt, machte sich Boas auf die Suche nach ihr. Sie war ihm im Traum erschienen und hatte um Hilfe gebeten, sie habe sich ein Bein gebrochen und könne sich nicht bewegen, und er glaubte, die Gegend erkannt zu haben, die sich im Hintergrund langsam geöffnet hatte, heller geworden war, als würde sie beleuchtet werden. Vielleicht brach er auch auf, weil er ihr sagen wollte, dass er ohne den Gedanken, sie lebe in diesem kleinen roten Haus mit den gelben Vorhängen und abgetretenen Stufen drei Dächer weiter, nicht glücklich sein könne, und er brachte Poul zu seinen Kollegen, aber er erzählte niemandem, warum und wohin er ging, außer seinem Sohn, und dieser hörte zu und merkte sich jedes Wort, auch wenn er ihre Bedeutung nicht verstand.
Als Boas nicht mehr zurückkehrte, wurde Poul ins Waisenhaus gebracht, wo er ein paar Monate später ein Mädchen kennenlernte, das unbekümmert zwischen den Spielsachen und in der Bastelecke spazieren ging, während es den einen und anderen Filzstift in ihrer Jackentasche
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