Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
Vom Netzwerk:
würde jeden Moment eintreten und seine Hand halten.
    Henriksen, der einen anstrengenden Tag zu bewältigen hatte, nicht nur viele Patienten zu untersuchen (es gab bloß drei Ärzte für alle Einwohner Amarâqs), sondern auch einen mürrischen Kollegen zu befragen hatte, der immer wortkarger wurde, je mehr Anschuldigungen in der Luft hingen, gab dem vermeintlich Sterbenden ein paar Tabletten und schickte ihn nach Hause. Poul weigerte sich zu gehen, da er noch immer davon überzeugt war, dass er im Sterben lag, aber da er Henriksen nicht verärgern wollte, legte er sich auf die Bank im Aufenthaltsraum des Krankenhauses und wartete hier auf seinen Tod. Am Abend, als er längst eingeschlafen war, brachte ihn Henriksen im Krankenwagen, in einem kleinen weißen Bus, nach Hause. Am nächsten Tag war das Sterben verflogen –
    bis zum nächsten Monat, als die Welt zusehends undeutlicher wurde, immer mehr verschwamm. Zunächst dachte Poul, das Universum löse sich auf, die Tage würden heller, die Nächte dunkler und Sterne gäbe es überhaupt keine mehr, erst da fiel ihm auf, wie viele Umrisse die Welt besessen hatte und dass ihre Auflösung an den Konturen anfing, und er begann, sich Sorgen um Amarâq zu machen, bis er auf den Gedanken kam, dass mit der Auslöschung des Ortes auch sein Leben zu Ende sei. Diese Idee führte zur nächsten, nämlich, dass es vielleicht gar nicht die Stadt war, die sich auflöste, sondern er selbst: dass er im Sterben lag. Und er legte sich in sein Bett, zog die Decke bis ans Kinn und schloss die Augen, und er kam nicht zum Abendessen, auch nicht zum Frühstück und ignorierte die Fragen Pers, Henriksens und Mias. Es war einfacher und schmerzloser, jedes Gespräch zu verweigern.
    Wie seine Familie diesen Gedankengang nachvollzogen hatte, war ihm ein Rätsel; es mochte eine Rolle gespielt haben, dass Henriksen sich daran erinnerte, was sich Poul im Monat zuvor eingebildet hatte, auch war ihm schon seit längerem aufgefallen, dass dieser, wann immer er in die Ferne blickte, die Augen zusammenkniff. Eines Tages lag auf Pouls Nachttisch eine Brille mit silberner Drahtfassung, rund, klein, und Per, dem Pouls Sterblichkeit langsam zu viel wurde, setzte sie seinem Freund auf und zwang ihn, die Augen zu öffnen –
    dass sich die Dinge wieder voneinander absetzten, dass die Welt erneut eine Silhouette besaß, dass sie nicht nur von Schatten durchdrungen war, sondern auch von Licht, versetzte Poul in einen Zustand der Euphorie, und er bewegte sich tagelang tanzend durch Amarâq, sprang durch alle Seitenstraßen, und an jedem Ende sang er ein Lied, stets das gleiche, denn er kannte ausschließlich das eine.
    Von diesem Moment an glaubte Poul, er wäre unsterblich.
    Poul war es, der Per eine Familie gab.
    Poul, kurz wie sein Name und so dünn, so schmal, dass man versucht war, ihn um etwas herumzuwickeln, die Augen so dunkel, so groß, dass man sich in ihnen spiegelte: Wenn man Poul ansah, sah man sich selbst. Und Poul konnte so heftig lachen, dass er sich dabei auf dem Boden wälzte, egal, wo er sich befand, sei es im Schnee im Winter, sei es auf dem Steinboden in der Kirche, und wenn Poul lachte, hörte alles andere auf zu existieren. Sein größtes Talent war es, den Augenblick intensiv zu erleben, er musste ihn nicht festhalten, er wurde geradezu von ihm verfolgt, fast konnte man meinen, er verfüge, bestimme über ihn –
    manchmal allerdings, selten, schien es, als wäre es umgekehrt, und Poul, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, hing an einer Gegenwart, die ihn mit der Zeit zerriss.
    Per lernte Poul kennen, wenige Minuten nachdem ihn Keyi aus seiner Hütte geschmissen hatte. Er spielte mit den Steinen auf der Erde, schleuderte sie in die eine, dann in die andere Richtung, ohne zu überlegen, er schwamm dermaßen in seiner Wut und in seinem Zorn, dass er nichts anderes sehen und fühlen konnte, so bemerkte er auch den kleinen Jungen nicht, der sich ein Spiel daraus machte, den Steinen, die Per warf, auszuweichen, und jedes Mal, wenn es ihm gelang, vor Freude quiekte.
    Hör auf.
    Per zielte nun auf Poul, der vor Begeisterung quakte.
    Hör auf, du nervst.
    Per suchte nach größeren Steinen, mit denen er Poul bewerfen konnte. Poul grinste breit, bis Per traf.
    Au! Das hat wehgetan.
    Dann geh doch weg.
    Poul ließ sich auf die Erde fallen, vergrub seinen Kopf in den Armen und weinte, Per hörte ein leises Schluchzen.
    Weinst du?
    Poul nickte und heulte lauter.
    Hör auf!
    Per ging zu Poul, packte ihn an

Weitere Kostenlose Bücher