Anatomie Einer Nacht
den Schultern und rüttelte ihn.
Hör doch damit auf!
Poul stieß ein noch lauteres Geheul aus, linste mit einem Auge aus dem Nest, dann tauchte das ganze Gesicht auf, nass vor Tränen und doch mit einem Grinsen verziert, das weit über die Mundwinkel hinausging und Pers Lippen ansteckte.
Wie heißt du?
Per nannte Poul seinen Namen, Poul schenkte Per seinen: Er schenkte ihn ihm, er überreichte ihn, Per hatte von diesem Tag an die Erlaubnis, ihn auszusprechen, und er wollte es gerne tun, der Name schien sein Leben, so begrenzt und eng es vorher gewesen war, zu vergrößern, und obwohl Poul die Gegenwart in Person war, gab es ab diesem Moment in Pers Leben neben dem Vergangenen und Gegenwärtigen auch eine Zukunft.
Sie wurden Zwillinge, unzertrennlich, schliefen im selben Zimmer und bestanden darauf, ihre Betten eng aneinanderzuschieben, der ungeliebte Spalt wurde durch flinke Überquerungen geschlossen, ein Fuß, ein Bein, ein Arm, ein Mund, der zum benachbarten Ohr wanderte, flüsterte, murmelte, kicherte: Zwillinge, unzertrennlich. Und wenn sie die Berge erkundeten, denn das war es, was sie taten, sie explorierten , waren sie Forscher, sie müssten die Welt auskundschaften, sagte Poul, sie müssten sie beschreiben, sammeln, was zu sammeln sei, und bewahren, warum, fragte Per, sei es nicht gerade umgekehrt, sie würden von der Welt aufbewahrt? Er hatte sich die Welt immer als einen Behälter vorgestellt, als eine Schüssel, und vielleicht wäre es möglich, die Wände hinaufzukriechen, und das, hatte Per gedacht, wäre der Rand der Welt, und es wäre möglich, diesen Rand entlangzubalancieren, und man würde alles sehen, nichts wäre verstellt, und mit einem Schlag würde einem klarwerden, warum alles war, wie es war, denn man würde die Verbindungen sehen. Nein, widersprach Poul, natürlich nicht, die Welt müsse geschützt werden, deswegen sei Henriksen hier. Und warum sei Mia hier, fragte Per. Mia müsse Henriksen beschützen, antwortete Poul, aber wie, fragte Per, sie sei doch viel kleiner als Henriksen. Mia habe ihre eigenen Kräfte, sagte Poul, und von diesem Tag an sah Per Mia, die Kleine mit den roten Haaren, mit anderen Augen, gerade die Haare, die im Sonnenlicht zu glühen schienen, waren seiner Meinung nach die Quelle für diese geheimen Kräfte, von denen Poul gesprochen hatte, und Per folgte Mia, erforschte sie, zeichnete sie, beschrieb sie, und er übersah, dass er all die Dinge tat, von denen es hieß, sie müssten sie tun, um die Welt zu schützen, stattdessen schützte er Mia.
Es hätte alles so bleiben können, nichts hätte verändert werden müssen, wenn es nach dem männlichen Teil der familiären Gemeinschaft gegangen wäre, nur Mia war mit diesem Arrangement unzufrieden.
Sie hatte ihren Vater schon seit längerem gebeten, sie zurück nach Kopenhagen zu schicken, wo sie bei ihrer Mutter leben wollte. Als Scheidungskind fand sie, stehe ihr das zu, und mit Henriksen war es in der letzten Zeit schwierig gewesen, sie hatte gegen seine Anordnungen, Befehle , wie sie sie nannte, rebelliert, er hatte sie strenger als sonst zurechtgewiesen, sie mit Arbeiten im Haushalt, einkaufen, putzen, Staub wischen, versucht zu bestrafen, doch sie hatte ihn ignoriert und war aus dem Fenster in die Freiheit geklettert, die, wie sie jedes Mal wieder feststellte, schrecklich beschränkt war –
sie brachte sie nicht weiter als bis ans Ende der Straße. Henriksen hatte damit gerechnet und ihr die Musikanlage weggenommen, der Krieg zwischen ihnen lief schon seit mehreren Monaten, und eine Versöhnung war nicht in Sicht. Was Mia mehr ärgerte als alles andere, war, dass sie ihren Vater nicht aus der Fassung bringen konnte. Vielleicht war es der Versuch, genau dies zu erreichen, eine Reaktion, die über das Übliche hinausging, vielleicht verliebte sie sich in diesen Tagen tatsächlich, jedenfalls tauchte sie immer öfter in Pers und Pouls Zimmer auf, und Per begann, Dinge vor Poul zu verheimlichen, den ersten Kuss, den er mit Mia tauschte, die ersten Berührungen und schließlich das erste Mal, dem viele weitere Male folgten.
Henriksen bekam zunächst nichts von Mia und Per mit, er wunderte sich nur, dass seine Tochter ruhiger geworden zu sein schien, er interpretierte ihre Verlegenheit falsch, auch jene Pers, der nicht mehr mit ihm allein in einem Raum sein wollte, und eines Tages, Henriksen beendete seinen Arbeitstag früher als gewöhnlich, er spürte eine herannahende Erkältung, erwischte er seine Tochter
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