Anatomie Einer Nacht
verschwinden ließ, obwohl sich in ihrem kleinen Koffer, den sie stets mit sich herumtrug, eine ganze Palette Farbstifte befand, hübsch zusammengehalten von einer Schleife: die kleine Henriksen.
Seine Vorliebe für minderjährige Mädchen, vorzugsweise zwischen elf und sechzehn Jahren, musste Jesper Sørensen zum Verhängnis werden. Um sie ausleben zu können, hatte er sich mit Anfang dreißig für die Stelle am Rande Grönlands beworben. Er hatte sich ausgerechnet, dass es ihm dort leichter fallen würde, der Justiz zu entgehen, zumal es in Amarâq selbst weder ein Gericht noch ein Gefängnis gab und er als Vertreter der weißen Oberschicht sowieso unantastbar war, und er freute sich, als man ihm die Stelle gab, weil er für die Unannehmlichkeiten, die ihm durch den Umzug ans Ende der Welt entstanden, zusätzlich finanziell entschädigt wurde, monatlich ein halbes Gehalt mehr. Über die Grönländerinnen hatte ihm ein Freund erzählt, dass sie sexuell aggressiv seien, er hatte dieser Beschreibung begierig und mit wachsender Erwartung gelauscht und bald nach seiner Ankunft am eigenen Leib erfahren, was dies bedeutete: dass sich manche, wenige allerdings, anboten. Zu seinem Unglück waren es erwachsene Frauen, die daran interessiert waren, mit ihm zu schlafen, und keine Mädchen, aber als Arzt war es bloß eine Frage der Zeit, bis er mit einem Opfer allein im Untersuchungszimmer war, ihm erklärte, es habe eine Krankheit, die regelmäßig untersucht werden müsse, es gewisse Körperstellen freimachen ließ und sich diesen näherte, behutsam noch. Mit der Zeit verschwand seine Vorsicht, vor allem, da sich keines der Mädchen zur Wehr setzte, sondern, im Gegenteil, jedes ergeben mit sich spielen ließ, so dass es bald kaum noch ein weibliches Wesen unter achtzehn Jahren in Amarâq gab, das er nicht auf der Untersuchungsliege bestiegen hätte. Erst als die erste Kindfrau, denn so nannte er sie, Kindfrauen , schwanger wurde und das einfältige Geschöpf ihn als Vater angab, noch dazu gegenüber einer frisch importierten Kollegin , wurde der Vorfall zum Skandal –
dabei hatte er die einzige Zeugin, die von seiner Liebhaberei wusste, Laerke vom See, wohlweislich beseitigt, und wie elegant sich damals alles gefügt hatte, ein Zufall, dass er an jenem Abend Kirsten gefickt hatte, ein Zufall, dass die Alte am Haus vorbeigegangen und das Kind schreien gehört hatte, ein Zufall, dass er hinter ihr herlaufen, das entführte Balg zurückholen und dabei zusehen durfte, wie die Alte zu Boden stürzte, und mit einem Stein nachhelfen konnte, und all das vergeblich, dachte er und fluchte über die weiteren Anschuldigungen, die Suspendierung, schließlich die Untersuchung, die von dem Arzt Thomas Henriksen eingeleitet wurde.
Es war kein Zufall, dass Henriksen nach Amarâq geschickt wurde, denn er war ein Linker, ein Liberaler mit einer Tochter, Mia, er schien somit prädestiniert, streng mit seinem Vorgänger zu verfahren. Mia allerdings war es auch, die ihn durch ihre Entdeckerfreude immer wieder von dieser Arbeit abhielt, da er mehr Zeit, als ihm lieb war, damit verbringen musste, sie zu suchen. Schließlich brachte er sie jeden Morgen ins Waisenhaus, das sich direkt neben dem Krankenhaus befand, und bat darum, auf seine Kleine gut aufzupassen. Am Abend, nach Arbeitsende, holte er sie von dort ab, bei dieser Gelegenheit fiel ihm der Junge auf, in Mias Alter, der sich in den Ecken des Heimes herumdrückte und ihn und seine Tochter beäugte, auf offene Weise verstohlen. Als er herausfand, dass dieser mit Mia befreundet war, nahm er den Buben Poul eines Nachmittags mit zum Abendessen, und bald sah Henriksen in ihm sowohl einen Spielgefährten und Kameraden seiner Tochter als auch ein Kind, das er gerne in seine Familie aufnehmen wollte, allerdings nicht als Sohn, sondern als menschliches Haustier, das ihn mit seiner seltsam verqueren Logik unterhielt.
Als Poul zwölf Jahre alt war, wurde er krank, er bekam Schnupfen, Halsweh, Bauchschmerzen, die Gelenke taten ihm weh, der Rücken, er musste husten und hatte Fieber. Für Poul war dies mehr als eine Grippe, seinem Verständnis nach lag er im Sterben, und weil er dies so würdevoll wie möglich tun wollte, schleppte er sich ins Krankenhaus und legte sich auf den Boden in Henriksens Büro, schloss die Augen und wartete auf den Tod. Zu Hause hatte er nicht sterben wollen, denn Mia und Per waren in der Schule, und er war einsam. Hier fühlte er sich Henriksen nahe, denn er wusste, dieser
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