Anatomie Einer Nacht
und Per in Mias Bett. Henriksen zeigte keine Reaktion, schloss die Tür und verließ das Haus, und er sprach nicht, weder mit Mia noch mit Per oder Poul. Letzterer versuchte erst gar nicht, ihn anzusprechen, sondern schlich um ihn herum, mit hängenden Augen. Henriksen zog sich völlig in sich zurück, bis er eines Nachts Per aus dessen Bett zerrte, ihn aus dem Haus jagte und erst ein paar Stunden später mit einer blutverschmierten Hand zurückkehrte. An diesem Abend packte er seine und Mias Sachen, verließ am nächsten Morgen mit seiner Tochter Amarâq und kam nie wieder zurück.
Per aber, der später verschreckt und eingeschüchtert vor Henriksens Haus auftauchte, wurde noch am selben Tag verhaftet und nach Nuuk geflogen. Man sagte ihm, er sei ein Vergewaltiger, Mia habe ihn angezeigt. Er verbrachte zwei Jahre in der Hauptstadt, nachts schlief er in einem kleinen weißen Würfel, Kopf an Kopf mit den anderen Insassen, tagsüber säuberte er Straßen, fuhr Lieferungen aus und versuchte Poul zu erreichen, seine Lieferroute führte immer an der Post vorbei und der öffentlichen Telefonzelle, doch es hob niemand ab.
Als er nach Amarâq zurückkehrte, war nichts mehr so, wie er es verlassen hatte. Das Haus gehörte einem Ehepaar, das aus Ittuk in die größere Stadt gezogen war, und Poul war nicht zu finden. Erst durch mühsames Herumfragen fand Per heraus, dass sich Poul nach Pers Verhaftung erhängt hatte, und man drückte ihm ein Foto in die Hand, das man in dessen Hosentasche gefunden hatte, eines, das ihn und Henriksen zeigte, in einer Umarmung.
Anders sitzt vor der Disko auf der Erde, er raucht und versucht, die Rauchwolken und seinen Atem mit der rechten Hand einzufangen. Er ist sich sicher, dass er Kopfschmerzen hat, aber er kann seinen Kopf nicht fühlen, er fragt sich, wann er ihn das letzte Mal fühlen konnte, und er versucht ihn zu bewegen, aber er spürt ihn nicht. Es beunruhigt ihn, dass er nichts mehr zu fühlen glaubt, er meint, er sei emotional taub geworden, und nur wenn er Dinge berührt, wenn er sich verletzt, sich schneidet, wenn er geschlagen oder verprügelt wird, spürt er noch etwas, doch selbst in diesen Situationen erstaunlich wenig. Manchmal meint er, gehörlos zu sein, dann öffnet er seinen Mund und schreit, um etwas zu fühlen, und sei es bloß die Stimme, die den Körper verlässt.
Geht es dir nicht gut?
Zwei Beine bleiben neben ihm stehen, ein Paar rosarote Sportschuhe, die Stimme auf Augenhöhe.
Geht es dir nicht gut?
Idi hockt sich neben Anders auf den Boden. Sie tastet nach seiner Hand, drückt sie sanft, einmal, zweimal und ein drittes Mal, Anders reagiert nicht, steckt seinen Kopf zwischen die Knie und presst sie zusammen, als wollte er ihn vom Hals abtrennen.
Hör auf.
Idi schlägt gegen Anders’ rechtes Bein.
Du tust dir weh.
Sie greift nach dem Knie, biegt es nach außen, so dass Anders’ Nacken freikommt.
Was ist mit dir los?
Anders schüttelt Idi ab, dreht sich weg, verrät nicht, dass ihn die Welt in seinem Kopf zu ängstigen begonnen hat, dass sie sich in einer Sprache und mit Bildern ausdrückt, die ihm Rätsel aufgeben. Er müsste sagen, man habe sein Gehirn geentert, dann würde er noch hinzufügen, dass seine Gedanken geraubt wurden und er beobachten kann, wie sie langsam weggeführt werden, doch er kann sich nicht rühren –
wie in diesen Träumen, würde er sagen, in denen man sich nicht mehr bewegen kann, aber alles andere um einen herum rührt sich schon, man sieht und hört alles, kann aber nicht eingreifen, obwohl genau das notwendig wäre, um den Diebstahl zu verhindern, stattdessen muss man zusehen, wie die Gedanken verschleppt werden, und an manchen Tagen ist der Abstand zwischen einem selbst und ihnen kleiner, sie sind fast zum Greifen nahe, als hätte jemand die Zeit angehalten, an anderen Tagen aber wird die Entfernung schnell größer, als würde sie jemand fortblasen.
Nichts.
Anders stößt Idi zur Seite.
Lass mich in Ruhe.
4 An einem braunen fransigen Strick hängen zwei Fischhäute samt Köpfen zum Trocknen, außerdem ein blaues Plastiknetz, eine Neonröhre, ein Bohrer und in einem Stoffsack unterschiedlich lange und dicke Seile zum Fischen und zum Vertäuen des Bootes. Ein Schistock für Erwachsene und einer für Kinder lehnen an der Wand sowie ein Besen, davor liegen Kehricht, Gummihandschuhe und diverse Plastikflaschen in verschiedenen Größen, sie werden zum Angeln eingesetzt, als Bojen, um die Lage des Netzes zu
Weitere Kostenlose Bücher