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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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jene am anderen Ende der Stadt, am Fjordmund, nach Spielsachen: nach kleinen Reifen, Knochen, Stangen, Schrauben und Muttern.
    Heute Abend schlurft Oles Nachbar die Straße entlang, er schleppt, gehüllt in einen roten Schianzug, einen Stuhl auf seinen Schultern nach Hause, die Sitzfläche ist durchgebrochen, und durch das Loch hat er seinen Kopf gesteckt. Nun beginnt es zu regnen, die Tropfen durchnässen ihn innerhalb kürzester Zeit, sie sind mittelgroß, manche größer, manche kleiner, ihr Tempo ist schrecklich beständig, und mit der Zeit wird ihn frieren, obwohl er einen wattierten Overall trägt. Er wird von Julie überholt, die, so scheint es ihm, aus dem Nichts auftaucht, die Stuhllehne anrempelt und ohne eine Entschuldigung die Straße entlangschreitet, als hätte sie Angst, sich zu verspäten.
    Etwa zur selben Zeit schleicht Ole nach Hause, aber er geht nicht die Stufen hinauf zur Tür, sondern um die Treppe herum und rüttelt an einem Brett in der Wand; es lockert sich, er greift hinein und zieht ein Jagdmesser aus dem Spalt, Laerkes Messer, man drückte es ihm am Tag seines Auszugs in die Hand. Er überlegt noch, ob er es mitnehmen soll, als sein Telefon piepst und er eine Nachricht von Magnus empfängt; schnell steckt er es in seine Jackentasche zum Scheck der Sozialhilfe, er hat ihn nicht eingelöst, das Bier nicht besorgt.
    Der Himmel ist bedeckt, die Wolken sind längliche Streifen, übereinandergeschichtet wie Schuppen. Sie hängen tief und sind so zahlreich, dass man meinen könnte, der Himmel selbst sei am Sinken.
    Es ist acht Uhr, Lars bekommt Besuch von Niels. Dieser lässt sich gern von Lars zum Essen einladen, denn Lars ist ein großzügiger Gastgeber, heute gibt es Spaghetti mit Tomatensauce, danach hat Niels versprochen, Lars’ Träume zu deuten. Während sie auf die Pasta warten, jeder eine Dose Bier in der Hand, sagt Niels: Selbst wenn du weit weg von deiner Familie und deinen Freunden lebst, kannst du herausfinden, wie es ihnen geht, indem du von ihnen träumst.
    Sogar wenn sie tot sind?
    Niels nickt.
    Gerade wenn sie tot sind, reißt die Verbindung nie ab. Wir begegnen ihnen in unseren Träumen.
    Inger trifft endlich zu Hause ein, Sofie wartet schon auf sie, die Nachbarin brachte sie vor Stunden heim, und das Mädchen wusste nicht, was es tun sollte, also blieb es vor der Haustür sitzen und wartete an dieser Stelle regungslos und zusammengekauert, bis seine Mutter auftauchte; diese beachtet die Tochter kaum, geht von Raum zu Raum und sammelt die Schmutzwäsche auf, Sofie läuft ihr nach und versucht, sie festzuhalten.
    Inger schiebt das Kind aus der Küche, klopft sich die Hände an den Hosenbeinen ab und nimmt eine Packung Fischstäbchen aus dem Gefrierfach. Sie schüttet die Stäbchen in die Pfanne, noch bevor das Öl heiß ist, die Panier saugt es gierig auf. Robbenfleisch ist teuer, Inger hütet die Stücke, die sie vor einer Woche auf dem Markt gekauft hat, wie einen Schatz, hebt sie für besondere Gelegenheiten auf, besondere Gelegenheiten , sagt sie laut und runzelt die Stirn. Sie reduziert die Hitze, es eilt nicht, sie sah, wie Mikkel mit Ella im Hotel Amarâq verschwand, sie folgte ihnen bis zur Tür. In einer Stunde, denkt sie, wird die Abenddämmerung einsetzen, und sie nimmt das Fernglas, das auf dem Regal neben dem Telefon liegt, öffnet das Fenster und sieht hinaus. Sie beobachtet die Straße, von Zeit zu Zeit entwischt ihr Blick zum Fjord.
    Auf der anderen Seite der Stadt macht sich Sivke fertig zum Ausgehen, auf das Abendessen hat sie verzichtet, kein Hunger, kein Appetit. Im Nebenhaus schlüpft Julie in ihre Jacke und Schuhe, lässt zwei weinende Schwestern zurück und eine ratlose Mutter. Der Stiefvater tut so, als wäre ihm alles gleichgültig; er hält sich von Julie fern. Bald wird sie Jens Petersens Haus erreicht haben, dann wird sie an sein Fenster klopfen, sie wird ihm zurufen, dass sie ihn noch immer liebe und immer lieben werde, dass sie ihn sprechen wolle, ein letztes Mal, er aber wird ihr diesen Wunsch abschlagen und danach ihre Rufe ignorieren, jeden einzelnen.
    Jede versäumte Gelegenheit, sagt man in Amarâq, ist ein kleiner Tod.

2    Lars legt das Gewehr auf den Boden, schiebt die Kiste mit dem Fuß beiseite. Ein großer Plastiksack kommt zum Vorschein, er nimmt eine Schachtel heraus, öffnet sie: Ein Stoß Fotos befindet sich in ihr, die Bilder aufgenommen im Sommer vor zwei Jahren, als er für einen Besuch zurückkam nach Amarâq, ein

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