Anatomie Einer Nacht
vielleicht ist es noch genießbar, und er greift nach ihm, um es aus der Haut zu pulen und zu essen, als es ihm aus der Hand geschlagen wird, mach, dass du zur Bank kommst und die Sozialhilfe abholst! Gitte, betrunken oder schlaftrunken, stößt ihn in den Rücken, mach schon, wir brauchen das Geld noch heute, und auf dem Rückweg besorg ein paar Dosen Bier, nun mach schon, und sie zieht ihn an den Ohren, stößt ihn aus dem Haus, und er fällt von den Stufen auf die Erde.
Inzwischen ist es zwei Uhr nachmittags, Sivke ist auf dem Weg zu Emilias Buchgeschäft, auch hier kann man Schifffahrscheine kaufen, und sie würde gerne wegfahren, obwohl sie nicht weiß, wohin, keine der drei Ortschaften, die zur Auswahl stehen, hat sie Lust zu besuchen, dennoch fühlt sie sich gerade jetzt, gerade heute rastlos, als müsste sie unbedingt fort. Vielleicht möchte sie auch nur einen Kaffee trinken und sich mit einem Menschen unterhalten, der sie nicht meidet, sie nicht behandelt, als wäre sie krank, und bei Inger fühlt sie sich wohl, obwohl sie kaum miteinander sprechen.
Inger ist anders als sonst, sie blickt nicht auf, wirkt zerstreut und verwirrt. Als Sivke sie fragt, ob alles in Ordnung sei, nickt sie und flüchtet ins Büro. Erst als Sivke sich verabschiedet, fragt Inger, ob es wahr sei, dass sie die Journalistin aus Kangerlussuaq mitgebracht habe, nein, sagt Sivke, sie sei allein hergekommen, aber es stimme, sie habe sie in Kangerlussuaq getroffen, im Polar Bear Inn , als sie dort als Verkäuferin gearbeitet habe, zwischen Gummischlangen, Keksen, Haltbarmilch, Haltbarjoghurt und Spielzeug aus China, Wasserpistolen, dreidimensionalen Comicfiguren und Stoffbären –
Mittagessen nebenan in Anis Kiosk und Bar , an einem der sechs Silbertische: Die Teelichter in den türkisfarbenen Glasbehältern wurden während der Zeit, in der sie in Kangerlussuaq lebte, nie angezündet, die Küche war durch ein großes Fenster vom Essraum getrennt, auf dem Fensterbrett stand die Kasse, an der man eines der vielen Gerichte auf der Speisekarte, Rentierburger mit Pommes Frites oder thailändisches Hühnercurry, bestellen konnte. Den roten Sitzbänken an der Wand standen schwarzgepolsterte Aluminiumstühle gegenüber, und um die Mittagszeit bildete sich stets eine Schlange vor dem Buffet, die Techniker vom Flughafen warteten hier ebenso auf ihre Bestellungen wie die Stewardessen, Tagesmütter und Familienväter.
Ella sei bei den Spielautomaten an der Wand gestanden, sie habe Münzen in den einarmigen Banditen geworfen, lustlos am Hebel gezogen und nie gewonnen. Die Tischfußball-Maschine habe sie auch ausprobiert, es aber schnell gelassen, schließlich habe Sivke sie angesprochen, ob sie allein hier sei, ob sie Gesellschaft wolle, und Ella habe genickt und sich zu ihr gesetzt. Sie habe ihr ein grünes Slush spendiert, danach hätten sie noch einen Erdbeermilchshake getrunken, und Ella habe gelacht und gesagt, dass der Weihnachtsbär am Kühlschrank ein ganz Armer sei, denn er werde fortwährend stranguliert.
Für eine Journalistin sei sie erstaunlich furchtsam und schüchtern gewesen, meint Sivke, an den folgenden Tagen habe sie sie überallhin begleiten müssen, sogar in die Schule, in der sie die dreizehnjährigen Schülerinnen und Schüler nach deren Freizeitbeschäftigung (Freunde treffen, Gitarre spielen, Hundeschlitten fahren, tanzen, Fußball spielen, jagen, wandern, radfahren, Online-Spiele spielen und fernsehen) und Zukunftsplänen (Elektriker, Mechaniker, keine, keine, keine, Koch, weiß nicht und Kindergärtnerin) befragt habe, und die auf Ellas Frage, was im Leben für sie wichtig sei, zu Protokoll gaben: Liebe, zögerlich, aber einstimmig.
Auch zum kleinen Fleischer am Flughafen habe sich die Journalistin nicht allein getraut, der Laden befinde sich in einem weißen Häuschen, das wie ein Klo aussehe und einzig wegen des leuchtendgrünen Müllcontainers, der zweimal in der Woche mit abgeschabten Knochen und blutigen Rippen gefüllt werde, als Fleischerei erkennbar sei.
Ella habe gesagt, sie schreibe eine Reportage über die hohe Selbstmordrate unter Jugendlichen in Grönland, sagt Sivke, deswegen habe sie ihr von Amarâq erzählt, und am nächsten Tag habe Ella ein Ticket in den Osten gebucht und sei hingeflogen.
Mit einem Mal lässt Inger das Geschirrtuch sinken, mit dem sie die gespülten Tassen abgetrocknet hat, bittet Sivke, kurz, zehn Minuten, auf das Buchgeschäft aufzupassen und verlässt den Laden. Sie eilt in
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