Anatomie Einer Nacht
Richtung Küste, jene Schulkinder, die nicht nach Hause gehen wollen, deswegen den Nachmittag auf der Straße verbummeln, unter ihnen Julie, laufen an ihr vorbei. Bei den vertäuten Schiffen, den kleinen Yachten und Motorbooten, bleibt sie stehen, und verborgen hinter der Tankstellensäule beobachtet sie das Treiben im Hafen, vor allem die Heimkehrer Ella und Mikkel.
Inzwischen trifft Keyi im Hotel Amarâq ein, fragt an der Rezeption nach der Adresse von Malin Olsen. Der Rezeptionist sieht ihn unschlüssig an. Er könne sie ihm nicht geben, Datenschutz. Aber sie sei seine Tochter, sagt Keyi, sie habe vor ein oder zwei Wochen hier gewohnt, sie habe ihn gesucht, vielleicht habe sie sogar eine Nachricht für ihn hinterlassen? Diese Idee kommt ihm gerade jetzt, und sie macht ihn glücklich, Keyi lächelt. Nein, sagt der Rezeptionist, keine Nachricht. Aber, fügt er nach kurzem Überlegen hinzu, sie würden eine Nachricht an Frau Olsen schicken, wenn er dies wünsche. Keyi antwortet nicht, dann schüttelt er den Kopf, er müsse darüber nachdenken, noch falle ihm nicht ein, was er ihr sagen könnte, und nach einem kurzen Blick aus dem Fenster sieht er sich nach dem Ausgang um, stößt wegen der Fliegennetze mit Sara zusammen, sie verheddern sich im feinen Stoff und brauchen eine Weile, bis sie ihre Körper aus den Netzen befreit haben. Sie entschuldigen sich gegenseitig, Sara versteht Keyi kaum und geht auf ihr Zimmer.
Am frühen Abend, wenn das Rathaus schließt, löst sich die Gruppe vor dem Gebäude auf, die Frauen mit ihren Kinderwagen gehen nach Hause, die Männer rauchen zu Ende oder trinken aus, der Jogger beginnt seinen Abendlauf, und am Horizont sind ein paar Kinder zu sehen, die mit ihren Mountainbikes zunächst noch im Gebirge, später auf der Baustelle herumfahren, zwischen dem Generator und dem Bagger. Sie flitzen über die Sandhügel und landen auf der Erde, und mit jedem Anlauf werden die Sprünge höher.
Das Museum hätte schon längst geschlossen sein müssen, doch Sivke verspätet sich, da sie auf Inger gewartet hat. Als diese nicht auftaucht, muss sie die unechte Freundin bei Emilia verpetzen, die nur kurz mit der Zunge schnalzt. Im Eilschritt geht sie zum Museum, steigt die Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock, schaltet den Computer aus, steigt die Treppe wieder hinunter und schließt die Tür des Museums ab.
Auf dem Heimweg trifft sie Keyi, der sie am Arm festhält, sie zu sich heranzieht und in ihr Ohr wispert: Wir sind einsam, weil wir unser Wesen nicht verleugnen können, verstehst du?
Sie schiebt ihn von sich, doch er lässt sich nicht unterbrechen.
Je einsamer man sich im Leben fühlt, desto einsamer fühlt man sich im Sterben, verstehst du?
Sivke zwickt ihm in die Hand, er lockert seinen Griff, lässt sie los. Folgt ihr, als sie weitergeht.
Verstehst du denn nicht?
Es fällt ihr schwer, ihn zu ignorieren, denn er ist ein Außenseiter in Amarâq, er wird von allen gemieden, wie sie.
Verstehst du denn nicht?
Sie bleibt stehen, dreht sich langsam um. Sie empfindet Mitleid mit ihm, das Gefühl ist heute stärker als sonst.
Sie öffnet ihr Portemonnaie, schüttet ein paar Münzen in ihre Hand, lässt diese unter seinem hellen Blick in seine Tasche fallen; er wendet sich ab.
Jeden Abend sitzt Keyi in seiner türkisfarbenen Jacke und rot-weiß-roten Schirmmütze auf dem Bergplateau, der Obdachlose (der einzige, den wir haben!, sagte erst neulich der Bürgermeister und setzte stolz hinzu, deswegen sind wir eine Stadt!), und beobachtet den Fjord. Er entdeckte als Erster, dass der kleine Wal, der die Bucht vor Amarâq nicht verlassen wollte, verrückt war und erschossen werden musste, er sagte, der Wal sei depressiv. Auf dem Felsen gegenüber stehen die Namen derjenigen, die sich im Lauf der letzten Sommer umgebracht haben, sie heben sich vom grauen Stein ab, in leuchtendem Blau, Rot und Grün. Einzig die gelben Namen sind verblichen und kaum noch sichtbar.
Um diese Zeit leert sich die Straße, die Menschen gehen nach Hause, um zu Abend zu essen, und für eine Stunde ist es sehr still, bis auf das Rauschen des Windes und das Plätschern des geschmolzenen Eiswassers, das in Rinnsalen den Berg hinunterfließt.
Wenn sich zwei Stunden später langsam die Haustüren wieder öffnen, sind es zuerst die Kinder, die es nach draußen zieht, um durch die Stadt zu wandern, zu dritt oder zu viert, die kleinen mit den großen Geschwistern, sie durchsuchen die Baustellen in der Nähe des Heliports und
Weitere Kostenlose Bücher