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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Internetcafé der Stadt wird gerade in einem Wohnzimmer aufgebaut, die Couch muss noch getauscht werden, um Platz zu schaffen –
    die Kundschaft ist begrenzt, daher gilt das unausgesprochene Gesetz, dass es keine konkurrierenden Läden geben darf.
    Um zwölf Uhr, während der großen Pause, wird in der Schule das Mittagessen verteilt, heute gibt es Fischsuppe mit Zwieback und als Nachspeise einen Apfel, Ole schleicht in seine Klasse, um sich eine Portion zu holen, seit Jahren ernährt er sich auf diese Weise. Er verbrachte den Vormittag beim Fluss, im Tal der Blumen, beobachtete Onno, den Jäger, bei der Fütterung der Hunde, beobachtete, wie dieser einen verrottenden Seehund aus der Vorratskiste zog, die Flossen vom Körper abtrennte, und wie, als die Klinge ins Fleisch glitt, aus dem Inneren weiße Maden krochen, flohen, als hätten sie lediglich auf das Öffnen einer Tür gewartet. Die Haut des Tieres ist gelb, seine Augen sind noch erkennbar, und wenn der Wind bläst, wedeln seine Barthaare, dann strömt der Gestank nach Verwesung, ein süßlicher Geruch, eine Mischung aus Blut, Seehund und Kot, ins Tal.
    Nach dem Mittagessen versucht Ole, unbemerkt aus dem Schulgebäude zu schlüpfen, wird aber von Susanne Møller, der Schulpsychologin, eingefangen. Vor ihrem Büro warten schon drei Schülerinnen, unter ihnen Julie Hansen. Ole wird von Susanne gefragt, wie es ihm zu Hause gehe, ob seine Eltern ihr Alkoholproblem langsam in den Griff bekämen, Ole versteht ihre Fragen kaum, sein Dänisch ist sehr schlecht, also sagt er ja, ja, und nein, als sie das Gesicht verzieht, verbessert er sich schnell, und zehn Minuten später darf er gehen, nachdem Susanne etwas in eine Akte geschrieben hat.
    Julie ist die Nächste, Susanne wird fragen, wie es zu Hause ist, ob sich ihr Stiefvater ihr wieder genähert, ob sie mit ihrer Mutter endlich darüber gesprochen habe, Julie wird antworten, dass Martin schon länger nichts versucht habe, dass sie ihn auch nicht mehr an sich heranlasse, dass sie mit ihrer Mutter noch nicht darüber geredet habe, aber dass sie auch nicht das Bedürfnis nach einem Gespräch habe, und überhaupt sei alles halb so wild, und Julie wird betont gleichgültig aus dem Fenster sehen, Susanne wird innerlich seufzen, sich fragen, was sie hier eigentlich tue, sie wird doch nichts bewirken können, und in dem Moment wird Julie fragen, ob sie bitte gehen dürfe, und Susanne wird antworten, ja, natürlich, wenn es nichts mehr gebe, was sie besprechen wolle?, und Julie wird nicken, aber kurz bevor sie die Tür öffnen wird, wird sie fragen, wie lange Liebeskummer anhalte, Wochen, Monate oder Jahre? Und Susanne wird sie fragend ansehen und sie bitten, sich wieder zu setzen, aber Julie wird abwinken, ach, nein, es sei unwichtig, sie habe sich diese Frage bloß gestellt, weil sie ein Buch gelesen habe, und gehen, und kurz wird Susanne überlegen, ob Julie trauriger wirkt als sonst oder ob sie sich das einbildet, und sie wird in Erwägung ziehen, in Julies Klasse nachzufragen, aber sie wird sich dagegen entscheiden, denn sie muss mit dem nächsten Mädchen darüber sprechen, wie es zurechtkommt, seit es von seinem Onkel geschlagen wurde.
    Vieles in Amarâq wächst im Geheimen, Gewalt drängt in winzige Häuser und gedeiht dort, als würde sie auf engstem Raum nicht zählen –
    oder übersehen werden wie die Flora, die so klein ist, dass man sich hinknien, die Nase gegen die Erde pressen und die Augen ganz nah an die Pflanzen heranschieben muss, um sie zu erkennen. Ohne dieses Wissen, wirken die Berge und Täler wie eine Einöde, nichts regt sich, nichts scheint hier zu leben, nicht einmal Insekten, obwohl es sie gibt, Moskitos, arktische Fliegen mit spindeldürren Beinen und schmalen Flügeln, Wasserkäfer und Wolfsspinnen –
    aber sobald man Amarâq entziffern kann, wird man es lieben, dann wird man es nicht mehr verlassen können, man wird sich nach dieser bizarren Landschaft verzehren und jeden Tag von einer Sehnsucht heimgesucht werden, die alles andere überdecken wird. Doch die Rückkehr nach Amarâq wird eine Rückkehr in den Stillstand sein, und vergeblich wird man versuchen, sich mit diesem Ort zu arrangieren.
    Ole wirft einen Blick ins Wohnzimmer, seine Eltern sind wieder eingeschlafen, er hört seinen Vater schnarchen. Er schleicht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, obwohl er weiß, dass sich nichts in ihm befindet, vielleicht doch das Stückchen Salami, denkt er, das ich gestern nicht wollte,

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