anderbookz Short Story Compilation

sich, Soldaten zu schicken. Tagsüber plünderten die verzweifelten Dorfbewohner die ganze Gegend auf der Suche nach uns und töteten uns in unseren Schlafplätzen. Nachts kamen sie in Scharen mit brennenden Fackeln und Äxten und Pfählen, um uns direkt gegenüberzutreten, ungeachtet unserer nächtlichen Kräfte. In jenen Kämpfen verzeichneten sie große Verluste, aber sie schwächten auch unsere eigenen Reihen. Ich habe mich am Leben erhalten, indem ich mir das, was ich brauchte, von den frisch verstorbenen Dorfbewohnern holte.«
    Sie hielt inne, um Harper genau anzusehen. »Dich schaudert nicht bei diesen Einzelheiten.«
    Harper, die innerlich schauderte, sagte mit einiger Mühe: »Es scheint eine qualvolle ... Es scheint, als hättest du ... gelebt so gut es ging.«
    Augenblicklich erlosch Drakes schwaches Lächeln. »Ich habe immer nur gelebt so gut es ging. Nachdem die Kämpfe vorbei und die Vampirhorden ausgerottet waren, verließ ich meine Höhle, in der ich mich tagsüber versteckt hielt. Dank meiner Androgynität konnte ich mein wahres Geschlecht verheimlichen, was in jenen Tagen zum sicheren Reisen unerläßlich war. Und schon bald lernte ich, den unsagbaren Schmerz zu ertragen, den es mir bereitet, meinen menschlichen Körper notfalls in den eines Säugetiers zu verwandeln. Mir war nämlich sehr bald klar geworden, wie ich mich verhalten mußte, wollte ich weiter am Leben bleiben.«
    Sie blickte auf einen Punkt irgendwo über Harpers Schulter. »Ich war auf praktisch allen Schlachtfeldern, auf denen Menschen sich bekämpft haben. Es gab nicht einen Krieg, dessen unmenschliche Leiden ich nicht gesehen habe.«
    Harper, die allmählich zu verstehen begann, flüsterte: »Du meinst, seit dem achtzehnten Jahrhundert hast du ...«
    »Auf dem Boden aller Länder habe ich Blutbäder gesehen, die deine schlimmsten Alpträume weit übertreffen. Ich war bei dem inhumanen Gemetzel des amerikanischen Bürgerkriegs anwesend; ich war mit amerikanischen Soldaten bei all euren Auslandskriegen - in Verdun, Dünkirchen, Hiroshima, Kuwait, Moskau ... In all den Jahrhunderten gab es nicht einen Moment, in dem nicht irgendwo auf der Welt eine Schlacht stattgefunden hat, an deren Opfern ich mich sättigen konnte.«
    Wie betäubt fragte Harper: »Und du bist nie entdeckt worden? Oder verdächtigt?«
    »Die Dunkelheit hat mich geschützt. Und bei Opfern auf Schlachtfeldern werden immer nur die tödlichen Wunden untersucht.«
    »Gab es ... noch andere wie dich?« brachte Harper hervor.
    »Ja. Es gab mehr als genug Futter für uns alle.«
    Harper schloß die Augen. »Wieviel gibt es denn jetzt noch von ... deiner Art?«
    »Das weiß ich nicht.« Drake zuckte die Schultern. »Aber aus guten Gründen glaube ich, daß nur die Fittesten von uns überleben können. Wir haben gelernt, daß Zahlen uns Sicherheit bieten. Kleine Zahlen. Und wir haben auch gelernt, uns überaus gut zu tarnen - so gut, daß wir uns oft nicht einmal untereinander erkennen.«
    Harper starrte sie an. »Dann bist du all die Jahre, all die Jahrzehnte und Jahrhunderte ... ganz allein gewesen?«
    »Nein, nicht immer.« Drake seufzte. »Ich habe auch Frauen kennengelernt. Einige habe ich sehr gemocht. Ich glaube, einige haben mich geliebt.« Sie dachte nach, wählte sorgfältig ihre Worte. »Unendlich lange Jahre hatte ich keine von ihnen berührt und mich von keiner berühren lassen. Ich konnte den Anblick meiner Artgenossen nicht vergessen, die sich leidenschaftlich an den Lebenden genährt hatten, und ich fürchtete die Wirkung, die die Berührung von lebendigem Fleisch auf mich haben würde.«
    Harper atmete langsam ein. Welche Wirkung hatte die Berührung ihres lebendigen Fleisches bei Drake gehabt?
    »Dann kehrte ich zurück in mein Land. Ich war nicht dort gewesen seit ...« Einen Moment später fuhr sie fort: »Aber im Jahr zweitausendeinundzwanzig mußte ich wieder dorthin. Und wie du weißt, kam ich als Trauernde zurück.«
    Harper nickte düster bei Drakes Anspielung auf den »begrenzten« Ost-West Krieg, der gegen die unseligen, unschuldigen Pufferstaaten Osteuropas geführt worden war. Eine erschütternde Katastrophe, deren Wunden erst seit einem Jahrhundert zu heilen begannen.
    »Da die Grenzen dicht waren, kam ich als freiwillige Krankenhelferin übers Schwarze Meer ins Land. Hunderte Millionen waren tot, aber Zehntausende lebten noch, warteten auf den Tod durch irreversible Chemikalien in ihren Körpern ...
    In meinem Dorf traf ich Eva. Sie war erst