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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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längst nicht alles zu Ende gebracht hast?
Gib mir Zeit.
Selbst wenn es eine Flucht wäre, muss ich mir nur Gables
Narbe vor Augen rufen, um zu wissen, dass man manchen
Dingen nicht entkommen kann. Er hat seine Enttäuschung rund
um den Globus getragen, so wie Glass Nummer Drei mit nach
Visible gebracht hat. Gables Narbe hat mich immer gestört, weil
diese wilde, bewusst am Leben gehaltene Verwucherung Besitz
von seinem ganzen Körper und seiner Seele genommen hat.
Nur… Im Laufe dieser Tage habe ich immer wieder versucht,
einen Blick darauf zu erhaschen. Aber Gable trägt stets
langärmelige Pullover oder Hemden, und entgegen seiner
Gewohnheit bei früheren Besuchen läuft er auch nicht mehr mit
blankem Oberkörper durch das Haus, bevor er das Badezimmer
aufsucht. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass er seine Narbe
selbst nicht mehr sehen will.
Dinge ändern sich, Paleiko.
So wie Tereza ihr Shampoo gewechselt hat? Du kannst
Änderungen nicht erzwingen, mein weißer Freund. Oder
würdest du auch gehen, wenn es nicht Amerika, wäre, sondern
ein anderes Land?
Vielleicht.
Du willst ihn suchen, nicht wahr? Das war das Erste, woran
du gedacht hast, als Gable dir das Angebot gemacht hat.
Nummer Drei.
Ja.
Hältst du das für eine gute Idee?
Sei endlich still, Paleiko. Du bist tot. Nur weil ich diesen roten
Kristallsplitter aus deiner Stirn noch nicht gefunden habe…
Falsch! Ich sterbe nie, Phil. Das ist der Fluch und der Segen
von Terezas Geschenk. Ich bin immer bei dir.
Ja, als Wächter. Aber ich kann auf mich selbst aufpassen.
Quod erit demonstrandum. Wer hat das noch gleich gesagt?
Die Entscheidung fällt mir leicht. Ich scheue noch davor
zurück, mit Glass darüber zu sprechen, weil ich befürchte, dass
sie Einwände erheben und versuchen wird, mir meine
Reisepläne auszureden. Aber ich weihe Dianne ein. Auf meine
Worte hin kneift sie die Augen zu einem kurzen Blinzeln
zusammen, als wäre ihr ein Staubkorn hineingeraten. »Weiß
Glass schon davon?«
Ich schüttele den Kopf.
»Es ist eine gute Idee«, sagt Dianne trocken.
»Und das ist alles?«
»Erwartest du, dass ich in Tränen ausbreche?« Sie mustert
mich mit einem Blick, von dem ich nicht weiß, ob er Misstrauen
oder Sorge entspringt. »Du kommst doch irgendwann wieder,
oder?«
»Natürlich.«
»Also. Dann ist das alles.«
Tags darauf gehe ich zu Gable und sage ihm, dass ich sein
Angebot annehme. Seine Freude darüber – ein tanzender Reigen
von kleinen Funken in seinen Augen, ein Aufleuchten, das über
sein Gesicht huscht – ist Balsam auf meiner Seele. Er stürzt
sofort ans Telefon, nur eine halbe Stunde später ist die Sache
perfekt. Wir werden Visible gemeinsam am ersten Januar
verlassen.
»Du kannst es dir immer noch anders überlegen«, sagt Gable
und bittet mich gleichzeitig mit seinen Augen, es nicht zutun.
»Nein, ich komme mit.« Ich sehe ihn an, leicht verunsichert.
»Aber ich werde vielleicht eine Weile in Amerika bleiben.«
»Dachte ich mir.« Er legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Wenn du erledigt hast, was du dir vorgenommen hast, kannst
du jederzeit wieder dazustoßen, Phil. Ich zeige dir die Welt.«
»Ja. Die Welt.«
Irgendwann brachte Händel zwei Bilder mit in den Unterricht.
Eines davon zeigte eine kraterartige grüne Landschaft, die
keiner von uns Schülern identifizieren konnte – die besten
Angebote lauteten verwaiste Wiese nach dem Tod dreier Kühe,
Meteoreinschläge auf einem fremden Planeten, Regenwald aus
der Vogelperspektive. Das zweite Bild zeigte ein Ahornblatt.
Das erste Bild war die Vergrößerung eines Ausschnitts des
zweiten gewesen. Mag sein, dass ich Händels an diese zwei
Bilder geknüpfte Warnung nicht immer beachtet habe, aber
vergessen habe ich sie nie: Distanz schafft Klarheit. Und
Klarheit ist das, was ich zur Zeit mehr als alles andere brauche.
ZWEI TAGE VOR SILVESTER halte ich es nicht mehr aus.
Glass, Michael und Gable haben sich am frühen Nachmittag zu
einer Fahrt ins Blaue verabschiedet. Dianne und ich hätten
mitfahren können, haben aber beide abgelehnt. Ich wollte mit
mir allein sein, jetzt fällt mir die Decke auf den Kopf. Dianne
kommt zufällig hinzu, als ich mir in der Eingangshalle meine
Stiefel anziehe.
»Wohin willst du?«
»In die Klinik, zu Nicholas.«
Sie runzelt die Stirn. »Hat er nicht gesagt, dass er keinen
Besuch von dir will?«
»Mir egal. Ich fahre trotzdem.«
Dianne überlegt, dann greift sie kurz entschlossen nach ihrem
Mantel.

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