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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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mir vor Jahren
beschrieben hat, als Träume von blutbefleckten Bettlaken und
die Sorge um Glass mir den Schlaf raubten. Nur weiß ich nicht,
wo ich den Schlüssel aufbewahren soll. Er wiegt schwerer als
alle Erinnerungen zusammen.
    EINER VON GLASS’ unerfüllten Wünschen ist es, Visible
einmal in ihrem Leben in vollem weihnachtlichen Lichterglanz
zu sehen. Sie träumt davon, dass kunterbunte Lichterketten die
Haustür und jedes einzelne Fenster einrahmen, sich über
Fassade und Dach spannen, die Geländer und Trägerbalken der
Veranda umschlingen. Jede kleine Zinne und jedes der mit
winzigen Butzenscheiben bestückten Türmchen, aus denen
Dianne und ich aus Angst vor dem Dachboden als Kinder nie
herausgeschaut haben, sollte geschmückt sein.
    »Wenn ich es mir recht überlege, könnte man in die Bäume
auch noch welche hängen«, sagt sie zu Michael, während wir im
Kaminzimmer zu dritt den Christbaum schmücken. »Ich weiß
wirklich nicht, was du an diesen stinkenden Wachskerzen so toll
findest. Gefährlich sind sie auch.«
    »Bleib mir vom Hals mit deinen amerikanischen Mätzchen«,
erwidert Michael von einer wackeligen Holzleiter herab. »An
einen echten Baum gehören echte Kerzen!«
    »Ich habe keinen echten Baum gewollt!«, raunzt Glass. »Mit
unserer Plastiktanne sind wir jedes Jahr gut gefahren, oder,
Phil? Jetzt steht sie im Keller und -«
    »Reich mir das Lametta«, unterbricht Michael sie grinsend.
»Ich glaube, du wärst im Stande unter dem Tannenbaum auch
noch Hamburger zu servieren.«
    »Es gibt Huhn mit Backkartoffeln«, gibt Glass so würdevoll
wie großspurig zurück. Sie reicht Michael das angeforderte
Lametta. »Vorausgesetzt, Gable ist im Supermarkt erfolgreich
und erwischt noch eins von den Viechern.«
    Ich konnte es kaum glauben, als Dianne verkündete, dass sie
Gable zum Einkaufen begleitet. Dennoch passt es zu der
Veränderung, die mit ihr vorgegangen ist, zu ihrem langsamen
Wandel, den ich über die letzten Wochen und Monate
beobachten konnte, Dianne ist weicher geworden und leichter
zugänglich.
»O Michael, er ist wunderschön!«
    Glass strahlt. Früher hatte sie sich niemals so offen gefreut
wie jetzt, als der Christbaum, ein wahres Prachtstück von über
zwei Meter Höhe, fertig geschmückt ist. Sie kraxelt ebenfalls
die Leiter hinauf und drückt Michael einen KUSS auf die
Wange.
    »Warte nur, bis nachher die Kerzen angezündet sind«, sagt
Michael. »Dann werden dir die Augen übergehen. Elektrische
Kerzen!« Er schüttelt fassungslos den Kopf.
»Ist ja schon gut!«, sagt Glass. »Phil, legst du noch mal die
    Schallplatte auf, die mit -«
»Ich weiß.«
Zu den Klängen von White Christmas und dem schrägen
    Gesang von Glass verteile ich Teller voller Weihnachtsgebäck
im Zimmer, das Pascal uns gleich büchsenweise gebacken hat.
Im Kamin flackert ein kräftiges Feuer. Michael hat
Tannenzweige und Orangenschalen davor gelegt, das große
Zimmer duftet wie ein Gewürzladen. Das Einzige, was fehlt,
sind Geschenke unter dem Christbaum. Wir haben beschlossen,
darauf zu verzichten. Selbst Gable ist diesmal mit leeren
Händen nach Visible gekommen, was mir nur recht ist – auf
seine Hände bin ich angewiesen. Ich weiß nicht, was es ist und
wie er es vollbringt, aber wenn er mich in den Arm nimmt, was
er täglich mehrmals tut, wird mir leichter ums Herz. Zum ersten
Mal kann ich nachfühlen, was Michael für Glass bedeuten
muss.
    Als Gable und Dianne vom Einkaufen zurückkommen,
schließt Glass sich in der Küche ein – Kommandosache Huhn.
Das Resultat ist keine kulinarische Offenbarung, aber es lässt
sich durchaus sehen und schmecken.
    »Ist gut«, murmelt Michael anerkennend.
»Nur gut?«, fragt Glass misstrauisch über den Tisch hinweg.
»Es ist superb. Sozusagen das Huhn aller Hühner.«
Er lacht laut auf, als Glass ihn mit einer Kartoffel bewirft. Es
würde Michael nie in den Sinn kommen, offen das kleine
Weihnachtsmenü zu kritisieren. Er hat einen untrüglichen,
beneidenswerten Instinkt für die Grenzen anderer. Ein
schmerzhafter Stich durchfährt mich, als ich an Kat denken
muss, die in dieser Hinsicht sein genaues Gegenteil darstellt.
    Michaels Augen leuchten, als er kurz darauf die Kerzen am
Christbaum entzündet. Das Kaminzimmer erstrahlt in warmem
Licht, doch das ist nichts gegen das glückliche Strahlen, das
Glass umgibt. Sie geht zu Michael und küsst ihn so lange, bis es
fast peinlich wird, den beiden dabei zuzusehen. Im

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