Andreas Steinhofel
Hintergrund
dudelt und kratzt White Christmas, und ich überlege, wie viel
Arten es gibt, Bing Crosby umzubringen.
Dann sitzen wir um den flackernden Kamin, Glass, Michael
und Gable auf dem uralten, durchgesessenen Sofa, Dianne und
ich auf Küchenstühlen, und wir lauschen Gable, der nicht müde
wird zu erzählen: von der Hoffnungslosigkeit, mit der die
Menschen in den Slums von Kalkutta leben, von Armut und
Hunger in kleinen pazifischen Inselstaaten, deren Namen ich bis
dahin nie gehört habe, von dem Entsetzen, das einem
Bürgerkrieg in Südostasien gefolgt ist wie die Pest den Ratten.
Er berichtet vom Tod ungezählter Kulturen, den Schiffe über
Jahrhunderte an jede fremde Küste brachten, die sie ihren
europäischen Fürsten und Monarchen neu erschlossen. Es ist
das erste Mal, dass ich Gable von solchen Dingen sprechen
höre, das erste Mal, dass er zu erkennen gibt, dass mehr zu
seinem Leben gehört als die filigrane Schönheit schwarzer
Fächerkorallen oder getrockneter Seepferdchen.
Später, als alle zu Bett gegangen sind, hole ich das Päckchen,
das Nicholas mir hinterlassen hat, und gehe damit zurück ins
Kaminzimmer. In der Feuerstelle häuft sich Glut, hier und dort
flackern noch einzelne Flammen daraus hervor. Lametta und
Christbaumkugeln reflektieren das düstere Glimmen aus dem
Kamin. Das Päckchen wiegt schwer in meinen Händen. Seit
Tagen hat mich die Neugier gereizt, mehr als einmal war ich
dicht davor, es zu öffnen, aber aus irgendeinem Grund habe ich
mich an das Nicholas gegebene Versprechen gehalten, es erst
Weihnachten aufzumachen. Jetzt knie ich vor dem Kamin und
entferne das Geschenkpapier mit zitternden Fingern.
Es ist ein von Nicholas selbst oder von sonst wem gebundenes
Buch mit leerem Einband. Es enthält sechsunddreißig
Geschichten, von denen ich zwei bereits kenne. Ich blättere
rasch darin herum, überfliege einzelne Sätze, lese die Titel, und
das Museum der verlorenen Dinge wird vor meinen Augen
lebendig.
Die Flügel des Schmetterlings
Vom Messer, das sich selbst verletzte
Das Schiff ohne -
Ich schlage das Buch zu. Nach kurzem Zögern klappe ich es
wieder auf, reiße Blatt um Blatt heraus und füttere damit die
zischende Glut im Kamin. Bedächtig lecken Flammenzungen
über schwarze Buchstaben und weiße Leerräume. Dann lodern
einzelne Seiten plötzlich hell auf und krümmen sich wie unter
Schmerzen, bevor das Papier verglüht. Ich zucke zusammen, als
hinter mir ein Rascheln ertönt.
»Noch wach?«
»Ja.«
»Ich kann auch nicht schlafen.« Dianne hat sich neben mich
geschoben. Sie geht in die Hocke und deutet auf das Feuer, in
dem die letzten Seiten des Buches gerade zu Asche zerfallen.
»Was war das?«
»Nicholas.«
»Ein Geschenk für dich?«
Ich schüttele den Kopf. Dianne legt mir einen Arm um die
Schulter, ich weine, dann beginne ich zu reden, und so sitzen
wir vor dem Kamin, bis auch die letzte Glut erloschen ist.
Am ersten Weihnachtsfeiertag kommen Tereza und Pascal.
Sie treffen am frühen Vormittag ein, und binnen Sekunden hallt
ganz Visible von ihrem streitenden Geschrei und ihrem
kreischenden Lachen wider, als sie eine Weihnachtsgans mit
Äpfeln und Rosinen zu präparieren versuchen. Sie verwandeln
die Küche in ein Schlachtfeld und zaubern ein fünfgängiges
Menü auf den Tisch, das Glass, wohlwissend, dass ihr Huhn mit
Backkartoffeln vom Vortag dagegen verblasst, neidlos als
phantastisch anerkennt. Dennoch beäugt sie das Geflügel
skeptisch.
»Mein Gott, das arme Ding sieht ja fürchterlich aus!« Sie
zeigt auf die weit auseinander klaffenden, mit knusprig brauner
Haut überzogenen Gänseschenkel. »So obszön und so tot.«
Etwas Größeres als ein Huhn würde selbst sie niemals
zubereiten, weil sie als Kind mit ansehen musste, wie vor
Thanksgiving ein Truthahn geschlachtet wurde – ein
regelrechtes Blutbad, wenn man ihren Worten Glauben
schenken darf.
Pascal zwinkert ihr zu – seit sie Glass bei Michael in festen
Händen weiß, hat sich die Lage zwischen den beiden deutlich
entspannt – und klappert bereits mit der Tranchierschere. »Es
war nur ein Männchen, glaube ich. Also, nicht aufregen.«
Michael und Gable sehen einander an und verdrehen
gleichzeitig die Augen. Sie kennen sich erst seit wenigen Tagen,
aber sie kommen bereits glänzend miteinander aus, auf diese
seltsame, mir unverständliche Art, wie die meisten Männer
miteinander auskommen: ohne viele Worte, in einem fraglosen,
stillen
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