Angela Merkel - Ein Irrtum
Ungläubigen« skandiert und Zeitschriften verbrennt. »Manche Journalisten wissen, wie sie das Ihre zum Werk der Bürgerausschaltung beitragen können«, kommentierte Peter Sloterdijk süffisant den Hassartikel aus dem »Spiegel«.
Es spricht wenig dafür, dass bei »Stuttgart 21« nur die »dumpfen« Truppen des deutschen Spießers aufmarschieren, die nicht auf dem Niveau des Fortschritts sind. Man sollte mal in die andere Richtung schauen: Könnte es sein, dass der müde Fortschritt, den die Politik in der Planung von »Stuttgart 21« verkörpert sieht, nicht auf dem Niveau der Bürger ist?
Die erkennen womöglich im ordnungsgemäßen Prozedere, mit dem man in Stuttgart den Plan für den Bahnhofsneubau durchgewinkt hat, eher »Planungsstalinismus« (Harald Welzer) als Demokratie. Und fragen sich, warum sie im Fall Stuttgart eine einmal beschlossene Entscheidung
respektieren sollen, wo sie doch tagtäglich erleben, was man alles zurücknehmen kann, wenn man an der Regierung ist: die Rentenreform oder den Ausstieg aus der Kernenergie. Oder die »No-Bail-out-Klausel« des Eurovertrags. Oder das Versprechen, Europa werde keine Transferunion.
Auch in Deutschland, welch Wunder, sind die Bürger mehrheitlich selbstbewusst, verlangen anständige Ware, kein Gammelfleisch, denken mit, lassen sich ungern bescheißen, sind informiert – und aus Schaden klug geworden. Sie verfügen nicht selten über mehr Sachverstand, als in den Parlamenten versammelt ist, und lassen sich nicht mehr so leicht mit Stillhalteprämien ausschalten, wie es Politiker gern tun. »Bürgerausschaltung als Beruf – das ist gelegentlich noch härter als das übliche Bohren von harten Brettern«, spottet Peter Sloterdijk.
Er erkennt sowohl in Stuttgart als auch in der Sarrazin-Debatte nicht den Wütenden, sondern den Empörten: Den in seiner Ehre und in seinem Stolz gekränkten Bürger, der sich weigert, »durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken«. »Die Politik der nützlichen Entpolitisierung des Volks (steht) vor dem Scheitern. « 13
Erbarmen mit der Politik: Natürlich ist es nicht einfach, zwischen Opportunismus und »Durchregieren« die richtige Position zu finden. Wenn ein Politiker etwas für »politisch nicht durchsetzbar« erklärt, ist es nicht immer der Klügere, der hier nachgibt. Kirchturmpolitik, wie sie bei den frühen Grünen üblich war, ist nicht die Lösung, wenn es um die Führung eines Landes im europäischen und globalen Rahmen geht. Doch warum beweist die Kanzlerin Festigkeit
ausgerechnet in dieser, angesichts der größeren Probleme nicht wirklich weltbewegenden Frage? Warum fällt es leichter, die paar Rentner unter den »Wutbürgern« mit dem Wasserwerfer einzuschüchtern, statt ihnen zu erklären, wie es um die Rentenkassen heute und in Zukunft steht?
Oder ist das alles nur wieder eine Simulation tätigen Regierens, mutig und vorwärtsstürmend, in einer Sache, in der es nicht weiter zu schaden scheint? Das könnte sich als Irrtum erweisen. Nicht als meiner. Als der Irrtum Angela Merkels.
Mir scheint, der in seinem Stolz beleidigte Bürger mag das alles nicht mehr hinnehmen: Jene patronisierenden Schwätzer, die ihm immer, wenn er Eigensinn zeigt, warnend mit der Vergangenheit kommen. »Das deutsche Volk muss sechzig Jahre nach Kriegsende nicht vor sich selbst geschützt werden. Die Unterstellung, die Bürger würden sich im Innern selbst schädigen und im Äußeren isolieren, ist ehrabschneidend.« 14 Ich sehe das genauso.
1,2 Millionen Käufer von Thilo Sarrazins Buch bedeuten noch keinen Volksaufstand und Tausende von Demonstranten gegen »Stuttgart 21« ebenso wenig. Aber es gibt andere Indizien für die tiefer werdende Kluft zwischen Volksparteien und Volk, die Zweifel an der Legitimität jener wecken, die sich auf Legalität, also auf Regeln und Verfahren, hinausreden wollen.
Es sind harte Zahlen. Wer uns regiert, ist nicht mit einer Stimmenmehrheit der Wahlberechtigten ausgestattet, sondern lediglich mit der Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme
auch abgegeben haben. Im Fall einer Koalition mit einem kleineren Partner wird es noch kurioser: Grüne oder liberale Außenminister und Vizekanzler sind von über 90 Prozent der Wähler nicht gewählt worden.
Die schwarz-gelbe Koalition wurde 2009 mit der niedrigsten Wahlbeteiligung seit Kriegsende gewählt – von 70,8 Prozent der wahlberechtigten Deutschen. Während die Nichtwähler also fast ein Drittel der Wahlberechtigten ausmachten (2005: 23,6 Prozent),
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