Angela Merkel - Ein Irrtum
Großprojekt, dessen Planung Mängel aufweist, dessen Eckdaten längst überholt sind und das von Menschen durchgewinkt worden ist, deren Expertentum für seine Beurteilung offenbar nicht ausreichte.
Steht dagegen wirklich nur ein kurioses konservatives Bündnis zwischen radikalen jungen Baumschützern und modernitätsverweigernden Oldies auf der Straße? Handelt es sich tatsächlich nur um Trittbrettfahrer einer Partei, die ihr derzeitiges Stimmungshoch ausbauen will? Die Grünen seien die »Dagegen-Partei«, rief Angela Merkel jüngst in einem Anfall kämpferischer Stimmung. Mag ja sein, aber wofür ist die CDU – außer für ein Mammutprojekt, dessen
verkehrstechnischer Wert an seine Kosten nicht herankommt, dafür aber Platz schaffen soll für Architekten- und Bauherrenträume, die selten bis nie die Träume der Bürger sind?
Und hängt an einem solchen Projekt das Glück des Vaterlandes? Ex-Ministerpräsident Oettinger scheint das anzunehmen, er wirft den Demonstranten »unpatriotisches Verhalten« vor. Und Angela Merkel sieht gar den nationalen Notstand dräuen: »Stuttgart 21« sei ein europäisches Projekt, und wenn es nicht realisiert würde, gelte Deutschland als nicht mehr verlässlich. Und dann komme »morgen mein griechischer Kollege und sagt: Weil bei uns so viel protestiert wurde, kann ich die Stabilitätszusagen nicht mehr einhalten« 9 .
So schnell kann’s gehen – eben hat der Stuttgarter noch sein Demonstrationsrecht wahrgenommen, und schon hat er sich schuldig gemacht, nicht nur an der Zukunft »unserer Kinder«, sondern auch noch an der Stabilität des Euro. Ich glaube nicht, dass ein solches Argument geeignet ist, die Wut des Bürgers zu beschwichtigen. Im Gegenteil. Wer lässt sich schon gern für dumm verkaufen?
Ich kann mir vorstellen, dass der Stuttgarter Protestbürger viel gemein hat mit den fast 1,2 Millionen, die für ihren Protest bezahlt haben, indem sie Thilo Sarrazins Buch gekauft haben – zum Preis von immerhin 22,99 Euro. Wer diese Leute sind, weiß natürlich niemand. Aber es gibt Menschen, die haben da so eine Ahnung.
Dirk Kurbjuweit vom »Spiegel« weiß Bescheid. Er hat für Sarrazin-Leser wie Stuttgarter Protestler den Terminus
»Wutbürger« erfunden. Der »Wutbürger«, schreibt er, »buht, schreit, hasst«, er ist »renitent«, »fanatisch«, »konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung«, zukunftsvergessen und dem Wandel abhold, denn »wer alt ist, denkt wenig an die Zukunft« und hat »Angst vor Neuem, Fremdem«. Ob gegen »Stuttgart 21« oder für Sarrazin: Hier melde sich hysterischer »Mob«. 10
Eine ziemlich abgestandene Analyse, ein irgendwie gestrig wirkender Wutschrei eines auch nicht mehr ganz jungen Berliner Redakteurs. Er erinnert mich an die Hasstirade eines Hamburger Kollegen, der ebenfalls ein Problem mit den Älteren zu haben scheint. Jens Jessen, Feuilletonchef der »Zeit«, überraschte das Publikum Anfang 2008 mit einer Vision: Er hatte »das fürchterliche Gesicht« des Spießbürgers im deutschen Rentner erkannt. In einem Videoblog, der von der Internetseite der »Zeit« mittlerweile verschwunden ist, äußerte er Verständnis für junge Gewalttäter, die einen Rentner halb totschlugen, weil er sie auf das Rauchverbot im U-Bahnhof hingewiesen hatte. Man müsse fragen, »ob es nicht auch zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen und vielen anderen Deutschen auch«. Dadurch entstehe eine »Atmosphäre der Intoleranz, vor deren Hintergrund man Gewalttaten spontaner Natur beachten muss« 11 .
Krieg der Generationen in Deutschlands U-Bahnen, verursacht von militanten Alten?
Kurbjuweits und Jessens Tiraden erinnern an die »Gesellschaftskritik« der 60er-Jahre, als in jedem Hausmeister der Blockwart identifiziert wurde. Dieses »alte Weltbild
der moralisch dubiosen, weil nach Belieben unter Naziverdacht zu stellenden deutschen Mehrheit«, dem Frank Schirrmacher in der »FAZ« 12 damals ein »glückliches Ende« bescheinigte, hat offenbar mitnichten ausgedient, es rauscht mit neuer Macht durch die Blätter. Ist das das letzte Gefecht eines linken Mainstreams um die Deutungshoheit?
Es ist schon seltsam: Mit jedem islamistischen Hassprediger gehen die Meinungshabenden hierzulande zartfühlender um als mit einem Deutschen, der nicht mehr ganz jung ist. Die Angst davor muss gewaltig sein, dass der deutsche Spießer demnächst wutentbrannt vors »Spiegel«-Hochhaus zieht, »Tod den
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