Angélique - In den Gassen von Paris
der Bühne. Angélique ging ihm nach. Am liebsten hätte sie ihn angesprochen, aber sie fragte sich, ob er sie überhaupt wiedererkennen würde.
Er ging auf dem Quai des Morfondus, unterhalb des Justizpalasts, entlang. Ein paar Schritte vor sich sah Angélique in dem Nebel, der von der Seine aufstieg, seine eigenartige, magere Gestalt verschwimmen. Wieder kam es ihr vor, als sei er unwirklich. Er ging sehr langsam, blieb dann und wann stehen und setzte sich wieder in Bewegung.
Mit einem Mal war er verschwunden, und Angélique stieß einen leisen Schrei aus. Doch dann begriff sie, dass der Mann nur die drei oder vier Stufen, die zum Ufer führten, hinuntergestiegen war. Ohne zu überlegen, lief sie ihm nach und stieß beinahe gegen den Unbekannten, der sich an die Mauer stützte. Er krümmte sich und stöhnte dumpf.
»Was ist? Was habt Ihr?«, fragte Angélique. »Seid Ihr krank?«
»Oh, ich sterbe«, antwortete er mit schwacher Stimme. »Dieser Rohling hat mir fast den Kopf abgerissen. Und ganz bestimmt ist mein Kiefer ausgerenkt.«
Er spuckte einen Blutfaden aus.
»Aber Ihr habt doch gesagt, es täte nicht weh!«
»Gesagt habe ich gar nichts, dazu war ich überhaupt nicht in der Lage. Zum Glück hat der Große Matthieu mir einen guten Preis bezahlt, damit ich diese kleine Komödie aufführe!«
Er nickte und spuckte noch einmal aus. Sie fürchtete, er könne ohnmächtig werden.
»Das ist doch töricht! Ihr hättet nicht darauf eingehen sollen«, meinte sie.
»Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen.«
Angélique schlang den Arm um den mageren Oberkörper des Unbekannten. Er war größer als sie, aber so leicht, dass sie sich beinahe zugetraut hätte, dieses arme Gerippe zu tragen.
»Kommt, heute Abend sollt Ihr gut essen«, versprach sie. »Es soll Euch nichts kosten. Keinen Sol und keinen Zahn.«
In der Roten Maske angekommen, lief sie in die Küche und sah nach, was einem Mann, der ein Opfer des Hungers und des Zahnbrechers war, bekömmlich sein könnte. Da waren Brühe und eine schöne, mit Essiggürkchen gespickte Ochsenzunge. Sie brachte ihm beides und dazu einen Krug Rotwein und einen großen Topf Senf.
»Fangt schon einmal hiermit an. Das Fleisch ist sehr zart. Danach sehen wir weiter.«
Die Nase des armen Teufels bebte.
»Oh, welch wunderbarer Suppenduft«, murmelte er und richtete sich wie ein vom Tode Auferstandener auf. »Gesegnete Essenz göttlichen Gemüses!«
Sie ließ ihn allein, damit er sich unbefangen satt essen konnte. Nachdem sie ihre Anweisungen erteilt und sich vergewissert hatte, dass alles für den Empfang der Gäste bereit war, ging sie in die Kammer, um eine Sauce zuzubereiten. In dieses Zimmerchen zog sie sich zurück, wenn sie ein besonders schwieriges Gericht komponierte.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ihr Gast steckte den Kopf durch den Spalt.
»Sag mal, meine Schöne, bist du nicht die kleine Gaunerin, die Latein versteht?«
»Die bin ich… und auch wieder nicht«, erwiderte Angélique, die nicht wusste, ob sie ärgerlich oder erfreut darüber sein sollte, dass er sie erkannt hatte. »Jetzt bin ich die Nichte von Meister Bourjus, dem Wirt dieses Lokals.«
»Anders ausgedrückt, du stehst nicht mehr unter der finsteren Herrschaft des Sieur Calembredaine?«
»Gott bewahre!«
Er glitt in den Raum, trat mit seinem leichten Schritt auf sie zu, umfing sie und küsste sie auf den Mund.
»Also, Messire! Ich glaube, Ihr seid vollkommen wiederhergestellt«, rief Angélique, sobald sie wieder Luft bekam.
»Kein Wunder bei der guten Behandlung! Ich suche schon lange in Paris nach dir, Marquise der Engel.«
»Pssst!«, machte sie und sah sich erschrocken um.
»Keine Angst. Im Lokal sind keine Polizeispitzel. Ich habe keinen gesehen und glaube mir, ich kenne sie alle. Also, kleine Gaunerin, wie ich sehe, weißt du, wo man es gut hat. Bist du der Heukähne überdrüssig geworden? Da lässt man ein blasses, blutarmes, schmutziges Blümchen zurück, das im Schlaf weint, und findet eine mollige Gevatterin wieder, die sich das Leben schön eingerichtet hat … Und doch bist du es wirklich. Deine Lippen sind immer noch so schön, aber sie schmecken jetzt nach Kirschen und nicht mehr nach bitteren Tränen. Komm noch mal her …«
»Ich habe zu tun«, sagte Angélique und schob die Hände zurück, die sich um ihre Wangen legen wollten.
»Zwei Sekunden Glück sind so viel wert wie zwei Lebensjahre. Und außerdem habe ich noch Hunger, verstehst
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