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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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spritzte ihm aufs Hemd und über den Schreibtisch, und dann auch noch auf die Hand, mit der er seine Nase betastete.
    Inzwischen hatte ich den Schreibtisch umrundet und schlug ihm ein weiteres Mal ins Gesicht, diesmal etwas tiefer, seine abbrechenden Zähne taten mir an den Knöcheln weh. Er schrie etwas Unverständliches, doch da hatte ich ihn bereits vom Stuhl hochgerissen. Zweifellos würden Leute von seinem Geschrei alarmiert werden, innerhalb der nächsten dreißig Sekunden würde bestimmt die Tür des Rektorenzimmers auffliegen, doch innerhalb von dreißig Sekunden kann man einen ziemlichen Schaden anrichten, ich dachte, mir würden diese dreißig Sekunden ausreichen.
    »Du widerwärtiges schmutziges Schwein«, sagte ich, bevor ich ihm gleichzeitig eine Faust ins Gesicht und ein Knie in den Unterleib rammte. Doch dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass der Rektor noch Kräfte mobilisieren könnte. Ich dachte, ich könne ihn in Ruhe fertigmachen, bevor die hereinstürzenden Lehrer uns auseinanderzerren würden. Sein Kopf schoss blitzschnell nach oben und traf mich am Kinn, mit den Armen umklammerte er meine Waden und zog kräftig, wodurch ich das Gleichgewicht verlor und hinterrücks zu Fall kam. »Verdammt!«, schrie ich. Der Rektor rannte nicht zur Tür, sondern zum Fenster. Bevor ich mich aufrappeln konnte, hatte er es bereits geöffnet. »Hilfe!«, schrie er hinaus. »Hilfe!«
    Aber da war ich bereits bei ihm. Ich griff ihm ins Haar, zog seinen Kopf nach hinten und donnerte ihn dann gegen den Fensterrahmen. »Wir sind noch nicht fertig!«, schrie ich ihm ins Ohr.
    Auf dem Schulhof waren viele Leute, vor allem Schüler, bestimmt war gerade Pause. Sie sahen alle nach oben – zu uns.
    Den Jungen mit der schwarzen Mütze erkannte ich sofort in der Menge. Es hatte etwas Vertrautes, etwas Beruhigendes, in der Masse ein bekanntes Gesicht zu erkennen. Er stand mit einer kleinen Gruppe zusammen, etwas abseits, an der Treppe, die zum Eingang des Schulgebäudes führte, gemeinsam mit ein paar Mädchen und einem Jungen auf einem Motorroller. Der Junge mit der schwarzen Mütze hatte einen Kopfhörer um den Hals hängen.
    Ich winkte. Daran kann ich mich noch genau erinnern. Ich winkte Michel zu, und ich versuchte zu lachen. Durch das Winken und Lachen wollte ich ihm zeigen, dass es für Außenstehende wahrscheinlich dramatischer aussah, als es in Wirklichkeit war. Dass ich eine Meinungsverschiedenheit mit dem Rektor gehabt hatte, über seine, Michels, Hausarbeit, aber dass eine Klärung des Problems in Sicht war.

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    »Das war der Ministerpräsident«, sagte Serge; er setzte sich und verstaute sein Handy in der Tasche. »Er wollte wissen, worum es in der Pressekonferenz morgen gehe.«
    Einer von uns dreien hätte nun fragen können: »Und? Was hast du gesagt?« Doch es blieb still an unserem Tisch. Manchmal lassen Leute eine solche Stille aufkommen: wenn sie keine Lust haben, den naheliegendsten Weg einzuschlagen. Wenn Serge einen Witz erzählt hätte, einen Witz, der mit einer Frage angefangen hätte (Warum können zwei Chinesen nie gemeinsam zum Friseur gehen?), wäre höchstwahrscheinlich eine sehr ähnliche Stille aufgekommen.
    Mein Bruder schaute auf seine Dame blanche, die man, wahrscheinlich aus Höflichkeit, noch immer nicht weggeräumt hatte. »Ich habe ihm gesagt, ich würde noch heute Abend etwas verlauten lassen. Er hofft, es sei nichts Ernstes. Dass ich mich zum Beispiel aus den Wahlen zurückziehen wolle. Das hat er wörtlich gesagt: ›Mir würde es für uns beide aufrichtig leidtun, falls du jetzt, sieben Monate vor den Wahlen, zu dem Entschluss kommen solltest, die Flinte ins Korn zu werfen.‹« Serge versuchte den Akzent des Ministerpräsidenten nachzuahmen, doch das gelang ihm dermaßen schlecht, dass es eher einer nachgemachten, einer überzogenen Karikatur ähnelte als der Karikatur selbst. »Ich habe ihm wahrheitsgetreu geantwortet, ich würde diese Angelegenheitgerade noch mit meiner Familie besprechen. Dass ich mir noch einige Optionen offenhielte.«
    Als der Ministerpräsident sein Amt angetreten hatte, waren die Witze nicht aus der Luft gegriffen gewesen: über sein Äußeres, sein plumpes Auftreten, die zahlreichen sprachlichen Ausrutscher. Inzwischen war so etwas wie ein Gewöhnungsprozess eingetreten. Man hatte sich daran gewöhnt, wie an einen Fleck auf der Tapete. Ein Fleck, der einfach dorthin gehörte, und über den

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