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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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man sich erst dann wundern würde, wenn er verschwunden wäre.
    »Oh, das ist ja interessant«, sagte Claire. »Du hältst dir noch Optionen offen. Ich hatte angenommen, für dich würde alles bereits feststehen. Für uns alle.«
    Serge suchte Blickkontakt mit seiner Frau, doch die tat so, als würde sie sich stärker für ihr Handy interessieren, das auf dem Tisch lag.
    »Ja, ich halte mir noch Optionen offen«, sagte er mit einem Seufzer. »Ich möchte, dass wir gemeinsam eine Entscheidung treffen. Als … als Familie.«
    »So wie wir das immer getan haben«, sagte ich. Ich dachte an die verbrannten Maccheroni alla carbonara, den Topf, den ich ihm ins Gesicht geschlagen hatte, als er versuchte hatte, mir meinen Sohn wegzunehmen. Doch offenbar war Serges Erinnerungsvermögen weniger ausgeprägt, denn ein herzliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
    »Ja«, sagte er – er sah auf die Uhr –, »ich muss … wir müssen jetzt wirklich gehen. Babette … Wo bleibt denn eigentlich die Rechnung?«
    Babette erhob sich.
    »Lasst uns gehen«, sagte sie; sie wandte sich Claire zu. »Kommt ihr auch?«
    Claire hielt ihr halb volles Grappaglas hoch.
    »Geht nur vor, wir kommen dann gleich nach.«
    Serge reichte seiner Frau eine Hand. Zuerst dachte ich, Babette würde die hingehaltene Hand ignorieren, doch sie griff danach. Sie bot Serge sogar einen Arm an.
    »Wir können …«, sagte er. Er grinste, ja er strahlte fast, als er seine Frau beim Ellenbogen fasste. »Wir kommen da gleich noch einmal drauf zurück. Wir trinken noch was in der Kneipe und kommen dann darauf zurück.«
    »Das ist gut, Serge«, sagte Claire. »Geht schon mal vor. Paul und ich trinken noch unseren Grappa und dann kommen wir nach.«
    »Die Rechnung«, sagte Serge. Er klopfte auf sein Jackett, als würde er eine Brieftasche oder eine Kreditkarte suchen.
    »Lass nur«, sagte Claire. »Wir erledigen das schon.«
    Und dann gingen sie tatsächlich. Ich schaute ihnen hinterher, wie sie zum Ausgang liefen, mein Bruder, der sich bei seiner Frau untergehakt hatte. Nur ein einziger Gast sah noch auf oder wendete den Kopf, als sie vorbeikamen. Offenbar gab es auch hier so etwas wie einen Gewöhnungsprozess: Man brauchte nur lange genug irgendwo zu sein, und schon fiel man inmitten der anderen nicht mehr auf.
    Auf der Höhe der offenen Küche schoss der Mann mit dem weißen Rollkragenpullover hervor: Tonio – zweifellos stand in seinem Ausweis Anton. Serge und Babette waren stehen geblieben. Hände wurden geschüttelt. Die Bedienung eilte bereits mit den Mänteln herbei.
    »Sind sie weg?«, fragte Claire.
    »Fast«, sagte ich.
    Meine Frau kippte den Rest des Grappas hinunter. Sie legte eine Hand auf die meine.
    »Du musst etwas tun«, sagte sie; kurz verstärkte sie den Druck ihrer Finger.
    »Ja«, sagte ich. »Wir müssen ihn zurückhalten.«
    Claire nahm meine Finger in die Hand.
    »Du musst ihn zurückhalten«, sagte sie.
    Ich sah sie an.
    »Ich?«, sagte ich dann aber doch, obwohl ich spürte, dass da gleich etwas kommen würde: etwas, wozu ich vielleicht nicht Nein sagen könnte.
    »Du musst ihm etwas antun«, sagte Claire.
    Ich sah sie weiter an.
    »Etwas, das ihn daran hindert, morgen die Pressekonferenz abzuhalten«, sagte Claire.
    In diesem Moment piepste irgendwo ganz in der Nähe ein Handy. Anfangs waren es nur ein paar leise Piepstöne, danach wurden sie lauter und ergaben zusammen eine Melodie.
    Claire sah mich fragend an. Und ich sie. Gleichzeitig schüttelten wir beide den Kopf.
    Babettes Handy lag halb versteckt unter ihrer Serviette. Unwillkürlich guckte ich zunächst noch zum Ausgang. Serge und Babette waren weg. Ich streckte eine Hand aus, doch Claire kam mir zuvor.
    Sie öffnete die Klappe und las, was auf dem Display stand. Dann klappte sie das Handy wieder zu. Die Piepstöne hörten auf.
    »Beau«, sagte sie.

[Menü]
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    »Seine Mutter hat jetzt gerade mal keine Zeit für ihn«, sagte Claire und legte das Handy dorthin zurück, wo es gelegen hatte. Sie bedeckte es sogar wieder halb mit der Serviette.
    Ich sagte nichts. Ich wartete. Ich wartete ab, was meine Frau sagen würde.
    Claire seufzte tief. »Weißt du, dass dieser …« Sie beendete ihren Satz nicht. »Ach Paul«, sagte sie. »Paul …« Sie warf ihr Haar zurück. In ihren Augen war nun etwas Feuchtes, etwas Glitzerndes, kein Kummer oder Verzweiflung, sondern Wut.
    »Weißt du, dass dieser …?«, sagte ich. Claire wusste nichts von den Filmen, hatte ich mir den ganzen Abend

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