Angerichtet
Geschichtslehrer geweckt, Herrn Halsema, der sich daraufhin mit der entsprechenden Arbeit an mich gewandt hat.«
»Über die Todesstrafe«, sagte ich, um dieses Drumherumgerede zu beenden.
Der Rektor sah mich einen Augenblick an, auch seine Augen hatten etwas Graues, Ausdrucksloses, der gelangweilte Blick durchschnittlicher Intelligenz, der zu Unrecht von sichbehauptet, alles schon einmal mitgemacht zu haben. »Genau«, sagte er; er nahm etwas vom Schreibtisch und fing an, darin herumzublättern. »Die Todesstrafe« las ich in den mir vertrauten weißen Buchstaben auf dem schwarzen Deckblatt, mit dem Foto des weißen Eisenbettes darunter.
»Es geht mir insbesondere um folgende Passage«, sagte der Rektor. »Hier: ›… trotz aller Unmenschlichkeit einer vom Staat durchgeführten Todesstrafe kann man sich manchmal fragen, ob es für einige Täter nicht besser wäre, wenn sie bereits in einem früheren Stadium –‹«
»Sie brauchen es mir nicht vorzulesen, ich weiß, worum es geht.«
Dem Gesicht des Rektors war anzumerken, dass er es nicht gewohnt war, unterbrochen zu werden. »Genau«, sagte er noch einmal. »Sie sind also mit dem Inhalt vertraut?«
»Nicht nur das. Ich habe meinem Sohn hier und da etwas geholfen. Kleine Ratschläge, den Löwenanteil hat natürlich er selbst gemacht.«
»Doch offensichtlich hielten Sie es nicht für notwendig, ihn bei dem betreffenden Kapitel zu beraten, das ich mal ›Selbstjustiz üben‹ nennen will?«
»Nein, aber ich habe etwas gegen den Begriff ›Selbstjustiz üben‹.«
»Wie würden Sie es denn bezeichnen? Schließlich geht es hier doch eindeutig um die Vollstreckung der Todesstrafe, bevor es zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren gekommen ist.«
»Aber es geht auch um das Unmenschliche der Todesstrafe. Die inhumane, klinische, vom Staat durchgeführte Todesstrafe. Mit einer Injektion oder auf dem elektrischen Stuhl. Um all diese grässlichen Details der letzten Mahlzeit, die sich der zum Tode Verurteilte selbst aussuchen darf. Ein letztes Mal das Lieblingsgericht, egal ob das Kaviar mit Champagner oder ein Doppel Whopper vom Burger King ist.«
Ich stand vor dem Dilemma, mit dem alle Eltern früher oder später einmal konfrontiert werden. Natürlich will man sein Kind verteidigen, man setzt sich für sein Kind ein, aber man darf das nicht zu vehement tun und schon gar nicht zu beredt – man darf den anderen nicht in die Enge treiben. Die Lehrer und Dozenten werden einen zwar ausreden lassen, danach werden sie sich aber am Kind rächen. Vielleicht hat man die wesentlich besseren Argumente – mit besseren Argumenten als denen von Lehrern oder Dozenten aufzuwarten, ist nicht schwierig –, doch letztlich wird das Kind dafür büßen müssen, sie werden ihren Frust über die Diskussion, bei der sie den Kürzeren gezogen haben, am Kind auslassen.
»Das finden wir doch alle«, sagte der Rektor. »Normale Menschen mit einem gesunden Menschenverstand finden die Todesstrafe unmenschlich. Davon spreche ich nicht, das hat Michel sehr gut beschrieben. Mir geht es ausschließlich um den Teil, in dem, vielleicht unglücklicherweise, die Liquidierung von Verdächtigen gerechtfertigt wird, bevor sie unter Anklage gestellt wurden.«
»Ich betrachte mich selbst als normal und gesund. Auch ich finde die Todesstrafe unmenschlich. Aber wir teilen diese Welt leider auch mit unmenschlichen Menschen. Sollen diese unmenschlichen Menschen nach einer Haftverkürzung wegen guten Betragens einfach so wieder in die Gesellschaft zurückkehren? Meiner Ansicht nach ist es das, was Michel damit meint.«
»Dann darf man sie also einfach so abschießen, oder was stand da noch« – er blätterte in der Hausarbeit –, »›aus dem Fenster werfen‹? Aus dem Fenster des zehnten Stocks einer Polizeiwache, glaube ich. Das ist, milde gesagt, in einem Rechtsstaat nicht üblich.«
»Nein, aber sie haben es nun aus dem Zusammenhang gerissen. Es geht um die schlimmste Sorte Mensch, Michel schreibt dort über Kindervergewaltiger, Männer, die Kinderjahrelang gefangen halten. Dabei spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle. Bei einem Prozess muss diese ganze Schäbigkeit wieder aufgerührt werden, im Namen eines ›ehrlichen Verfahrens‹. Aber wem ist damit gedient?
Den Eltern der Kinder? Das ist der Knackpunkt, den Sie unterschlagen haben. Nein, ein kultivierter Mensch wirft keine Leute aus dem Fenster. Und er gibt auch nicht auf dem Weg von der Polizeiwache zur Haftanstalt versehentlich einen
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