Angerichtet
Schuss aus seiner Pistole ab. Aber hier geht es nicht um kultivierte Menschen. Hier geht es um Menschen, bei denen jeder einen Seufzer der Erleichterung ausstößt, wenn es sie nicht mehr gibt.«
»Ja, das war es. Einem Verdächtigen angeblich aus Versehen eine Kugel in den Kopf zu schießen. Hinten im Polizeiwagen, jetzt fällt es mir wieder ein.« Der Rektor legte die Hausarbeit auf den Schreibtisch zurück. »War das auch einer Ihrer ›Ratschläge‹, Herr Lohman? Oder ist Ihr Sohn darauf ganz von allein gekommen?«
In seiner Stimme lag etwas, wovon sich mir die Nackenhaare aufstellten; zugleich spürte ich ein Prickeln in den Fingerspitzen, oder besser gesagt: Sie wurden taub. Ich war auf der Hut. Einerseits gönnte ich Michel alle Lorbeeren für seine Hausarbeit – wie auch immer, jedenfalls war er intelligenter als diese nach Kompost stinkende Dumpfbacke auf der anderen Seite des Schreibtischs –, andererseits musste ich meinen Sohn vor Schikanen bewahren. Sie könnten ihn womöglich suspendieren, überlegte ich, sie könnten ihn von der Schule werfen. Michel fühlte sich hier wohl, hier hatte er seine Freunde.
»Ich muss zugeben, dass er sich ein wenig von meiner Haltung zu diesen Themen hat leiten lassen«, sagte ich. »Ich habe da so meine eigenen Ansichten, was mit Tatverdächtigen von Verbrechen zu geschehen hat. Vielleicht habe ich Michel, sei es bewusst oder unbewusst, diese Ansichten irgendwie aufgedrängt.«
Der Rektor sah mich prüfend an, falls man den Blick eines Wesens mit so geringer Intelligenz überhaupt prüfend nennen konnte. »Eben haben Sie noch behauptet, Ihr Sohn habe den Löwenanteil der Arbeit erledigt.«
»Das stimmt. Vor allem die Passage, in der die vonseiten des Staates ausgeübte Todesstrafe als unmenschlich bezeichnet wird.«
Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass man bei Menschen mit geringer Intelligenz knallhart lügen musste; mit einer Lüge gab man den Dösköppen die Möglichkeit, sich ohne Gesichtsverlust zurückzuziehen. Darüber hinaus: Wusste ich wirklich noch, was in der Hausarbeit über die Todesstrafe auf meinem Mist gewachsen war und was von Michel kam? Ich erinnerte mich an ein Gespräch bei Tisch, in dem es um einen Mörder auf Hafturlaub ging, ein Mörder, der sich erst ein paar Tage auf freiem Fuß befand und aller Wahrscheinlichkeit nach bereits wieder jemanden umgebracht hatte. »So jemand sollte eigentlich nie mehr freigelassen werden«, hatte Michel gesagt. Nicht mehr freigelassen oder gar nicht mehr inhaftiert werden?, hatte ich gefragt; Michel war fünfzehn, wir besprachen mit ihm so ziemlich alles, er war an allem interessiert: dem Irak-Krieg, Terrorismus, dem Nahen Osten – in der Schule behandelten sie so etwas nicht, meinte er, es wurde einfach links liegen gelassen. »Was meinst du damit, nicht mehr inhaftiert werden?«, fragte er. »Na, einfach so«, sagte ich. »So wie ich es sage.«
Ich sah zum Rektor. Dieses Ekel, das an Erderwärmung und die komplette Austilgung aller Kriege und allen Unrechts glaubte, war höchstwahrscheinlich auch noch der Überzeugung, dass man Vergewaltiger und Serienmörder heilen konnte; dass man sie, wenn sie jahrelang mit einem Psychiater herumgequatscht hatten, wieder langsam resozialisieren konnte.
Der Rektor, der bislang ein wenig zurückgelehnt auf seinemStuhl gesessen hatte, beugte sich nun vor und legte beide Unterarme – die Hände flach mit gespreizten Fingern – auf die Schreibtischplatte.
»Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie doch auch im Lehramt tätig?«, sagte er.
Meine Nackenhaare und meine prickelnden Finger hatten mich nicht getäuscht: wenn die geringere Intelligenz eine Diskussion zu verlieren droht, greift sie zu anderen Mitteln, um zu ihrem Recht zu kommen.
»Ja, ich habe einige Jahre unterrichtet«, sagte ich.
»Das war auf dem (…), stimmt’s?« Er nannte den Namen der Schule, ein Name, der noch immer gemischte Gefühle bei mir auslöste, wie bei einer Krankheit, von der man offiziell genesen sein soll, von der man aber weiß, dass sie an einer anderen Stelle im Körper wieder auftreten kann.
»Ja«, sagte ich.
»Sie wurden dann in den Ruhestand versetzt.«
»Das ist nicht ganz richtig. Der Vorschlag kam damals von mir, ich wollte es eine Weile etwas ruhiger angehen lassen. Später, wenn sich alles wieder normalisiert hätte, wollte ich dann wieder zurückkehren.«
Der Rektor hüstelte und blickte auf ein Blatt Papier, das vor ihm lag. »Tatsächlich sind Sie dann aber nicht
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