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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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wieder zurückgekehrt. Tatsächlich sind Sie seit neun Jahren arbeitslos.«
    »Im Ruhestand. Ich könnte jederzeit irgendwo anders anfangen.«
    »Doch nach meinen Unterlagen, den Unterlagen, die mir von der (…) zugeschickt wurden, ist das von einem psychiatrischen Gutachten abhängig. Ob oder ob sie nicht mehr arbeiten dürfen. Die Entscheidung liegt also nicht bei Ihnen.«
    Wieder der Name der Schule! Ich merkte, wie sich die Muskeln unter meinem linken Auge zusammenzogen, das hatte nichts weiter zu bedeuten, doch von anderen konnte es womöglich als Tick ausgelegt werden. Deshalb tat ich so, als hätteich etwas im Auge, ich rieb daran mit den Fingerspitzen, doch die Muskelzuckungen schienen nur noch stärker zu werden.
    »Ach, das hat nicht so viel zu sagen«, sagte ich. »Ich brauche ganz bestimmt nicht die Genehmigung eines Psychiaters, damit ich meinen Beruf wieder ausüben darf.«
    Erneut sah der Rektor auf das Blatt Papier. »Hier steht aber etwas anderes … Hier steht –«
    »Könnte ich bitte einmal sehen, was Sie da vor sich liegen haben?« Meine Stimme klang scharf, befehlend und ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und dennoch kam der Rektor nicht sogleich meiner Aufforderung nach.
    »Wenn Sie mich bitte erst ausreden ließen«, sagte er. »Vor ein paar Wochen sprach ich zufällig mit einem Ex-Kollegen, der zurzeit auf der (…) arbeitet. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen, es ging, glaube ich, allgemein um den Arbeitsdruck im Lehramt. Um Burn-outs und Stresszustände. Er nannte einen Namen, der mir bekannt vorkam. Zunächst wusste ich nicht woher, und da dachte ich plötzlich an Michel. Und danach an Sie.«
    »Ich hatte nie ein Burn-out. Das ist eine Modekrankheit. Und gestresst war ich erst recht nicht.«
    Nun konnte ich sehen, wie das linke Auge des Rektors zuckte, auch wenn man das beim besten Willen nicht als Tick bezeichnen konnte, war es dennoch ein Zeichen plötzlicher Schwäche. Oder noch stärker: von Angst. Ich war mir dessen nicht bewusst gewesen, aber vielleicht lag es am Klang meiner Stimme – die letzten Sätze hatte ich betont langsam gesprochen, langsamer als die vorhergehenden – jedenfalls waren beim Rektor die Warnlichter angegangen.
    »Ich habe auch nicht behauptet, Sie hätten ein Burn-out gehabt«, sagte er.
    Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Und er hatte erneut das Augenzucken! Ja, etwas hatte sich verändert, auch der leicht besserwisserische Ton, mit dem er seine schwachenTheorien über die Todesstrafe vorgebracht hatte, war verschwunden.
    Jetzt konnte ich es deutlich riechen, durch den Kompostgeruch hindurch: Angst. So wie ein Hund Angst riechen kann, roch auch ich einen vagen, säuerlichen Geruch, der vorhin noch nicht da gewesen war.
    Ich glaube, ich bin in diesem Moment aufgestanden, ich weiß es nicht mehr ganz genau, irgendwo gibt es da einen blinden Fleck, eine Lücke in der Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, ob noch mehr Worte fielen. Wie auch immer: Plötzlich stand ich. Ich hatte mich aus meinem Stuhl erhoben und sah nun auf den Rektor hinab.
    Was danach kam, hatte alles mit dem Höhenunterschied zu tun, mit der Tatsache, dass der Rektor noch immer saß und ich auf ihn hinabsah – über ihn hinausragte, könnte man vielleicht besser sagen. Es war so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, wie Wasser, das von oben nach unten fließt, oder, bleiben wir bei den Hunden, die Tatsache, dass der Rektor sich durch seine Sitzposition im Nachteil befand, sozusagen in einer verwundbaren Lage. Bei Hunden kennt man das auch: Jahrelang lassen sie sich von ihrem Besitzer füttern und herumkommandieren und tun keiner Fliege etwas zuleide, sie sind brave Schätzchen, doch dann, eines Tages, verliert ihr Besitzer plötzlich das Gleichgewicht, er stolpert und fällt. Im Nu sind die Hunde bei ihm, hauen ihm ihre Zähne ins Genick und beißen ihn tot, manchmal zerfetzen sie ihn danach auch noch komplett. Es ist der Instinkt. Was fällt, ist schwach, was auf dem Boden liegt, ist ein Opfer.
    »Ich möchte Sie jetzt wirklich nachdrücklich bitten, mir das Papier zu zeigen«, sagte ich, nur der Form halber, und zeigte dabei auf das Papier, das der Rektor vor sich liegen hatte und nun mit den Händen zudeckte. Nur der Form halber, weil es bereits zu spät war, um den weiteren Verlauf noch zu stoppen.
    »Herr Lohman«, sagte er noch. Danach traf ich ihn mit der Faust voll ins Gesicht. Sofort spritzte Blut, viel Blut: Es schoss ihm aus den Nasenlöchern und

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