Angezogen - das Geheimnis der Mode
»Haremshosen« populär wurden, für Frauen einzuführen. Der rasante Erfolg dieser Hosen in den letzten Jahren hätte Poiret begeistert. Ohne den Orientalismus, der als historistische Verkleidung für viele Kollektionen von Saint Laurent bis John Galliano zentral war, ist die Mode der Moderne schlicht nicht vorstellbar. Der letzte eindeutig orientalische Einfluss, der populäre Triumphe feierte, war der nackte Bauch der jungen Frauen, der uns bis vor kurzem zwischen T-Shirt und Jeans entgegenleuchtete. Vollkommen wurde das orientalische Setting durch einen den Bauchnabel zierenden, funkelnden Stein. Der Bauch als die in der orientalischen weiblichen Kleidung erotisch besetzte Zone drängte für einen Moment die westlichen erotischen Zonen, Dekolleté und Po, in den Hintergrund. Was im Westen traditionell als Leib streng verhüllt wurde, wurde zum ersten Mal entblößt.
Wenn ich von der Mode als einem orientalisch exotischen, als bedrohlich eingeschätzten Fremdkörper im Herzen der Moderne spreche, der alle ihre Werte zu zersetzen droht, meine ich jedoch nicht bloß diese Aneignung von Motiven. Es geht um mehr als orientalische Zitate, um mehr als Anekdotisches, um mehr als bloße Chinoiserien. Dieser Orientalismus ist vielmehr eine Struktur. Die Mode wird zu einer Kolonie im Innern erklärt, die zum ästhetischen und ethischen Ideal der Aufklärung und der Moderne quer steht. Als ein solches fremdes, dringend reformbedürftiges Moment taucht sie in den meisten Schriften zur Mode auf, die selten einmal Lobeshymnen singen, sondern fast immer zur Erneuerung der Mode aufrufen. Reform – das steht wie mit Flammenschrift über fast allen Modetraktaten.
Rousseaus Harem mitten in Paris
Dass das Modische zum Gegenbegriff all dessen wird, was das moderne Subjekt als modern bestimmt, kann man bei Jean-Jacques Rousseau und Charles Baudelaire verfolgen. Die beiden für die Bestimmung der Ästhetik in der Moderne zentralen Autoren bewerten dasselbe – nämlich die offensive Zurschaustellung von Künstlichkeit – diametral unterschiedlich. Für beide ist das Sich-schön-Machen, das Sich-Herausputzen eine apotropäische Geste. Das Artefakt, als das die Frau sich herstellt, fasziniert Baudelaire und lässt Rousseau die von Schrecken geweiteten Augen auf sie heften. Besser, man senkt sie ganz schnell, ehe es um einen geschehen ist.
Jean-Jacques Rousseau wächst in der calvinistischen Republik Genf auf, um dann in das aristokratisch-postkatholisch geprägte Frankreich zu kommen. Sein Blick auf das von ihm verdammte und verabscheute Paris ist deshalb so kostbar, weil es der skandalisierte Blick eines Fremden ist. Das Einzige, was Genf und Paris – diese beiden Gesellschaftstypen, die man sich konträrer gar nicht vorstellen kann – verbindet, ist die Sprache. Die Mode bringt die Differenzen auf den Punkt. Selten wird einem die Fremdheit der vorrevolutionären Ordnung so klar vor Augen gestellt. Hier ist von der modernen, bürgerlichen Geschlechterordnung, die uns als das Natürlichste der Welt erscheint, keine Spur. Private und öffentliche Sphäre sind nicht getrennt. Von einem Ausschluss des Weiblichen aus der öffentlichen Sphäre und von allen öffentlichen Belangen kann nicht die Rede sein. Wir sind meilenweit von einem polaren Geschlechtermodell, das Weiblichkeit im besten Fall mit Herz, Männlichkeit mit Vernunft assoziiert, entfernt. Die Frauen des Ancien Régime regieren souverän; als Freie sind sie nicht ihrem Geschlecht unterworfen, ihrem Ehemann untergeordnet undin einer publikumsbezogenen Privatheit auf reproduktive und repräsentative Funktionen beschränkt. Den Raum des Privaten und der Familie, dessen Intimität es zu wahren gilt, gibt es noch nicht. Die eheliche Liebe muss noch erfunden werden. Ehe, meint Rousseau, sei in Paris ein Zusammenschluss von Junggesellen und Junggesellinnen. Und als Junggesellen und eben nicht als Ehemann und Ehefrau leben sie auch. Keine Rede von ehelicher Treue oder, moderner formuliert, fruchtbarer Heterosexualität im monogamen Paar. Promiskuität, aber auch Keuschheit werden nicht als Perversion angesehen, sondern als Norm. Die Männer sind noch nicht zu Menschen und alle Menschen nicht zu Brüdern geworden; die Frauen sind noch nicht auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter beschränkt.
Nicht umsonst hat Denis Diderot Rousseau, der diese Zustände geißelt, nicht als Aufklärer, sondern als Sektierer beschrieben. In Paris findet Rousseau das Sündenbabel, von dem ihm zu Hause
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