Angezogen - das Geheimnis der Mode
als Inbegriff aller Korruption gepredigt wurde. Rousseau erleidet, würde man heute sagen, einen Kulturschock. Das Ancien Régime beschreibt er als Reich der Galanterie, in dem die Frauen unumschränkt herrschen, weil die Männer ihnen zu Gefallen seien. Rousseau definiert die Pariser Gesellschaft seiner Zeit als orientalischen Gegenraum zur ländlich-patriarchalischen Schweiz und zur reinen Republik Genf. Paris wird ihm aber auch zum Gegenraum seines politischen Ideals: zum Gegenraum einer tugendhaften römischen Republik, in der es nach Rousseaus Gusto so spartanisch wie möglich zugehen sollte.
Mit einem Harem vergleicht Rousseau die Pariser Salons, in denen sich die Geschlechter in einer erotisch aufgeladenen Atmosphäre mischen. Allein der Eros regiert und alle antike virtus, alle patriarchalische Natürlichkeit wird zersetzt. Allmächtig herrschen hier im Zeichen der Rhetorik die Frauen – durch Schminke, überreizende Kleider und schönes Wortgeklingel –, und um aufrechte Männlichkeit ist es geschehen. Als bloßes Lustwerkzeug der Frauen, denen die Männer nach derenWillen zu Gefallen sein müssen, werden sie zu Eunuchen. Die natürlichste Natur wird in diesem Ort pervertiert: Frauen werden zu Idolen oder Männern, Männer zu Eunuchen oder Frauen.
Es ist Rousseau, der die Angst der Entmännlichung durch die orientalischen Sitten am klarsten formuliert. Paris steht unter dem Primat einer orientalischen, ungezügelten Lust – der Frauen. Diese unbeherrschte Lust ist den Männern fatal. Der orientalische Raum, als den Rousseau Paris sieht, ist ein Raum, in dem das selbstbestimmte und selbstbewusste, natürliche und vernünftige, identische Individuum der Moderne unter die Räder kommt. Unter der Herrschaft der Frauen kommt es zu einer Perversion des Natürlichen schlechthin, gegen die die Stimme der Natur zu verkünden Rousseau nicht müde wird: zu einer Verkehrung der natürlichen Ordnung der Geschlechter. Der Harem droht von Paris aus in vom Orientalischen noch unberührte Räume einzudringen. Orientalismus ist ein ansteckender Virus, dem keine republikanische Männlichkeit standhalten kann. Selbst im gründlich reformierten Genf greift das Weibische um sich: Auch dort gibt es bereits Männer, die sich wie Frauen anziehen. Junge Herren mit flötender Stimme, höhnt Rousseau, zeigen sich mit Sonnenschirmchen und anders als der aufrechte Bürger nicht in locker geschnittenen, in gedeckten Farben gehaltenen Jacketts aus Wolle, sondern in den bunten, enganliegenden Seidenjäckchen der Aristokratie.
Rousseau beschreibt das vorrevolutionäre Paris, damalige Welthauptstadt, als eine Gesellschaft des Spektakels. Das Spektakel, das aufgeführt wird, ist Weiblichkeit : women on display. Die Frauen, ganz Herrinnen der Lage, sind als Huren verkleidet. Diese Weiblichkeit, fingerdick aufgetragen und im Reifrock, ist Maskerade. Nicht nur bei Rousseau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Hure die Frau, die in der Mode den Ton angibt und deren Mode nachgeahmt wird. Auch bei den Kulturkritikern Eduard Fuchs und Adolf Loos zu Beginn des20. Jahrhunderts wird das so sein – aber die Frau im bürgerlichen Zeitalter tut das aus diametral entgegengesetzten Gründen zu der Frau in der aristokratischen Epoche. 72
In Paris, so Rousseau, ist es nicht mehr der Luxus, der die Mode der tonangebenden, herrschenden Schicht von den unteren Klassen trennt. Der Hof hat von goldbesetzten, schweren Seidenbrokaten absehen müssen. Würde man auf Prunk und Protz setzen, überflügelte die Finanzbourgeoisie den Geburtsadel sofort. In Paris sind, anders als etwa in Italien, die herrschenden Klassen nicht mehr die reichsten. Statt auf Geld als Distinktionsmittel zu setzen, um sich von den unteren Klassen abzusetzen, muss sich der Hof etwas anderes einfallen lassen. In Paris tragen alle, Bürgerinnen wie Adelige, dieselben leichten Stoffe, die sie, auf Reinlichkeit bedacht, oft wechseln. Alle sind sie nicht in Samt und Seide, sondern einfach in die viel preiswertere Baumwolle gehüllt. So könnte man die Herzogin nicht mehr von der Bürgerin unterscheiden, wenn, ja wenn die Herzogin sich nicht wie eine Hure anziehen und schminken und sich wie ein Mann, ja wie ein Soldat benehmen würde. Um unnachahmlich zu sein, entblößen die Damen von Welt den Busen und legen fingerdick Rouge auf. Nicht sie senken die Augen, sondern sie zwingen die Männer dazu, die Augen zu senken. Kühn ist ihr soldateskes Auftreten, das sie Junggesellen und
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