Angezogen - das Geheimnis der Mode
Abenteurern aller Art abgucken. Bürgerinnen, deren schamhafte Weiblichkeit Rousseau als natürlich setzt, können ihnen deshalb nicht nacheifern. Die krasse Zurschaustellung sekundärer Geschlechtsmerkmale dient, anders als man annehmen könnte, keineswegs als Lockmittel. Wenn Frauen herrschen, ist sie reines Distinktionsmittel. Weil sie de facto wie Männer herrschen, verkleiden sie sich als Huren. »Aus Angst, mit den anderen Frauen verwechselt zu werden, ziehen sie ihren Rang ihrem Geschlecht vor und ahmen die Freudenmädchen nach, um unnachahmlich zu sein.« 73
Das Schauspiel, das in aller Öffentlichkeit gegeben wird, ist schamlose Weiblichkeit, narzisstisch mit sich und derWirkung der zur Schau gestellten Reize auf den männlichen Zuschauer beschäftigt. Gegen diese spektakuläre Weiblichkeit stellt Rousseau eine »richtige«, zwar genauso inszenierte, aber betont unspektakuläre Form von Weiblichkeit. Sie nennt er »schamhaft«; die Natur selbst schreibt sie vor. Frauen, darüber macht Rousseau sich keine Illusion, haben kein Sein. Ihr authentisches Wesen ist das Nichts des Scheins, das Theater. Dass die Frau nicht eigentlich ist – eine Glücksbotschaft für Derrida 74 –, ist für Rousseau der nackte Schrecken. Für ihn ist Weiblichkeit Inszenierung, in der die Frau sich selbst zur Puppe macht, sich schminkt und schmückt. Im Sinne der Natur allerdings – oder besser im Sinne des Überlebens der Männer und der Sache aller – muss die eigene Inszenierung ausgelöscht werden. Weiblichkeit und mit ihr die Mode muss verbannt werden, Frauen müssen zu Müttern werden. Im Hause übt sie die sanfte Herrschaft des Herzens aus, damit Männer authentisch sein und ungestört die Sache aller, die res publica, vertreten können.
Giacomo Leopardi, Mode als Dekadenz pur
Im Geiste Rousseaus sieht Giacomo Leopardi in seinem 182 4 erschienenen satirischen Dialog zwischen Mode und Tod Mode als Dekadenz pur. Mode und Tod sind einen Pakt eingegangen. Gegen das klassische, lateinische Prinzip mens sana in corpore sano verformt die Mode so tyrannisch wie barbarisch im allgemeinen Wahn rigoros die Körper. Die Metamorphosen, denen sie absurd gnadenlos alles unterwirft, sind nicht zum Leben, sondern zum Tode. Kunstfertig macht sie die Menschen nicht schön, sondern verstümmelt sie: Schuhe quetschen die Füße ein, Korsetts nehmen den Atem und treiben die Augen aus dem Kopf, schon den Babys wird der Schädel verformt,um langgestreckter zu wirken. Grundsätzlich ist man zu warm oder kalt angezogen. Die Mode treibt die Menschen dem Tod scharenweise in die Arme: Bar jeder Vernunft auch im Winter nur in feinen Musselin gehüllt – Leopardi bezieht sich auf die neoklassischen Moden des ausgehenden Empire –, sind die Frauen so dünn angezogen, dass sie sich Fieber, Erkältungen, Lungenentzündungen und ganz buchstäblich den Tod holen. 75 Kurz, alles wird unternommen, um den Körper so gründlich wie langfristig zu verletzen, zu entstellen und krank zu machen. Mode ist so maßlos wie unangemessen. Als künstliche Verformung von Natur, als tödliches Prinzip ist sie Verfall schon im Leben: dekadent im wahrsten Sinne des Wortes. Als Prozess der Verformung steht die Mode gegen das Lebensprinzip selbst. In seiner Modesatire macht Leopardi keinen Unterschied zwischen den »zivilisierten« – Korsett und Musselin – und den »barbarischen« – Schädelformung der Babys – Praktiken der Mode. Universal herrscht tyrannisch die gleiche dekadente Barbarei.
Baudelaires Eroskulte
Baudelaires kurzes Aperçu zu Schminke und Mode im Peintre de la vie moderne , seiner Schrift zur Ästhetik der Moderne von 1863, macht mit Rousseaus Vorstellung natürlicher Schönheit, Einfachheit und Bescheidenheit kurzen Prozess. 76 Es ist der einzige hier behandelte Text, der Mode und Schminke und die damit einhergehende Idolatrisierung begeistert feiert. Erst die kunstvoll künstliche Inszenierung macht die Frau zum Idol und die Öffentlichkeit zum Ort eines barbarisch-orientalischen Eroskultes. Im Gegensatz zu Rousseaus paarzentrierter, bürgerlicher Herzensgemeinschaft und seiner männlich republikanischen Blutsbrüderschaft ist Baudelaires Ideal ein erotischer Kult, schwindelerregender Rausch der Großstadt.
Im Gegensatz zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in dem Adelige und Bürgerliche Rouge und Puder auflegten und ihr Gesicht mit Schönheitspflästerchen, die gleichzeitig erotische Botschaften waren, verzierten, schminkten sich anständige
Weitere Kostenlose Bücher