Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angezogen - das Geheimnis der Mode

Angezogen - das Geheimnis der Mode

Titel: Angezogen - das Geheimnis der Mode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Vinken
Vom Netzwerk:
Haut noch zu einem Schleier, der die Nacktheit umso nackter zeigt: Hier wird verpackt. Im Rückgriff auf antike Modelle und im Umschreiben ihrer Rezeption zeigt sich das Verhältnis von Nacktheit und Angezogensein, von Verschleiern und Enthüllen, von Stoff und Körper in neuem Licht.
    Exemplarisch ist das Verhältnis von Nacktheit und Stoff bis in die Moderne am Beispiel der antiken Statue entwickelt worden (Abb. 19). Aus hartem, kaltem, schwerem, unbeweglichem Marmor wurden leichte, hauchdünne, durchsichtige, sich anschmiegende Schleier, unter deren Faltenwurf das Fleisch lebendig scheint; der Stein als Schleier erst macht das Fleisch reizvoll nackt. Es war, wie wir gesehen hatten, die an die Revolution anschließende Epoche von Terreur und Directoire, die gegen die Aufpolsterung und Schnürung des Körpers in Anlehnung an die Antike ein neues Nacktes entwickelte, das angezogen umso ausgezogener wirkte. Noch nie war der Körper so nackt erschienen wie in dieser Zeit, als er wie in feuchte Tücher gehüllt entblößt wurde. Diese klassische Kunst, die durch Verhüllung enthüllt, ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Madeleine Vionnet mit ihren schräggeschnittenen Seiden vervollkommnet worden (Abb. 20). Der Traum der europäischen Mode, das von den Alten so scheinbar mühelos in Stein Gehauene in vergleichbarer Lebendigkeit nachzuschaffen, hat sich so erfüllt. 106
    Nicht das Prinzip der Verschleierung, sondern dasdes Kleides als zweiter Haut spielte im T-Shirt, das mit James Dean und Marlon Brando seinen ikonischen Durchbruch feierte, die entscheidende Rolle. Das T-Shirt aus Baumwolljersey, eigentlich ein Unterhemd, zeichnet die schwellenden Oberarme, Schultern und den oberen Torso nach. Es nimmt damit ein Motiv der Antike auf und entpuppt sich unvermutet als Klassizismus: In den Brustpanzern der Soldaten wurde der nackte Oberkörper ideal nachgebildet. Der Körper trägt so einen vollkommeneren, schöneren Körper auf sich. Das T-Shirt naturalisiert diesen Brustpanzer der Soldaten. Die Muskeln müssen jetzt folglich, um sich abzeichnen zu können, tatsächlich antrainiert werden.
    Kawakubos Abendkleid im großen Stil ist von der für sie charakteristischen offensiven Bescheidenheit, die von oberflächlichen Blicken mit Abgerissenheit verwechselt wird. Systematisch wird die Erwartung, die wir an ein Abendkleid haben, durchbrochen. Zunächst einmal ist dieses Kleid asymmetrisch. Allen Ideen des Handwerks, ob Schnitt, ob Symmetrie, kurz, der Idee des »zivilisierten Kleides« wird ins Gesicht geschlagen. Von einer Rocklänge zu sprechen wäre frivol. Die bis auf den Zentimeter bestimmte Rocklänge blieb bis in die Achtzigerjahre vielleicht wichtigstes Merkmal des saisonalen Wechsels in der Mode. Wollte man als modisch gelten, musste man sie strikt beachten. Der Saum hält sich asymmetrisch mit spitz auslaufenden Säumen und hört je nachdem unter dem Knie oder über dem Knöchel auf. Das Prinzip des Saumes ist im Kragen wieder aufgenommen: Ebenso asymmetrisch, läuft er vorne dreieckig spitz zu, um im Rücken eher rechteckig zu fallen.
    Das Kleid ist aus dem falschen Material und hat die falsche Farbe: nicht aus schillernd schmiegsamer, kostbar farbiger oder elegant schwarzer Seide, sondern aus anthrazitfarbenem Wolljersey, einem unedlen, einfachen Material, in dem man nicht feiert, sondern arbeitet – zumal, wenn es anthrazitgrau ist. Ein Abendkleid, ein Festkleid also, das in einer heimlichen Hommage an Chanel aus der Arbeitskleidung der unterenSchichten schöpft: ein Abendkleid mit einer Art Matrosenkragen. Denn Jersey ist eben der Stoff, den Chanel aus der Unterwäsche an die Oberfläche und als typischen Stoff der Matrosen- und Arbeiterkleidung in die höchsten Sphären der Gesellschaft katapultiert hatte. Anders als bei Chanel, anders auch als im T-Shirt, schmiegt sich dieser Jersey dem Körper nicht an, um ihn wie nackt zu zeichnen. Aber das ist noch nicht das Schlimmste.
    Das Kleid wirkt zweiteilig, weil über dem vermeintlichen Unterkleid, der Tunika, der Stoff in horizontalem Faltenwurf liegt. Es ist aus der Verschmelzung zweier antiker Typen entstanden. Die starke Betonung der Linie unter dem Po, die den Torso nach unten hin abschließt, ist charakteristisch für einen bestimmten Typus der Aphrodite, die von Archäologen sogenannte Anadyomene, deren nackter Oberkörper aus dem Faltenwurf eines Tuches aufsteigt. Es ist um die Hüften geschlungen und über dem Geschlecht zu einer Rose

Weitere Kostenlose Bücher