Angezogen - das Geheimnis der Mode
Anti-Ästhetik des Jansenismus die Grundlagen für eine ästhetische Wertschätzung von Armut, Alter, Spuren der Abnutzung, Kälte und Dunkelheit, Verfall, kurz all des klassisch Nichtschönen gelegt, das in Spuren Wahrheit lesen lässt – eine Wahrheit, die im Zeichen des Schönen und deshalb in Wirklichkeit Hässlichen illusionär übertüncht wird: die Wahrheit von der Gefallenheit und Vergänglichkeit aller zum Schein bloß schönen Welt.
Folgt man Hegel, dann sieht die westliche Ästhetik seit dem Christentum Kunst gerade nicht mehr als sinnlich vollkommene Darstellung göttlicher Vollkommenheit. Die Entäußerung Christi am Kreuz ist aus dieser Sicht die Matrix der romantischen Kunst, also der Kunst im Zeitalter des Christentums. Die Wahrheit der europäischen Kunst liegt also nicht mehr in vollkommener Schönheit, sondern gerade im Fehlerhaften, Mangelhaften. Notwendig wird das Vollkommene des Göttlichen im Sinnlichen verfehlt. Dieses Auseinanderklaffen zwischen sinnlicher Erscheinung und dem Sein des Dargestellten zeigt sich in einer Ästhetik der Un-Idealität. Eine solche Ästhetik des Individuellen, des Mangelhaften, Unvollkommenen hätte sich also auch in der westlichen Mode aufgedrängt – und man kann darüber streiten, ob sie bei Designern wie Martin Margiela Tatsache geworden ist. Cutting edge sind die Kleider Kawakubos jedenfalls nicht wegen der Umsetzung einer japanischen Ästhetik, sondern nur insofern sie in der Umsetzung dieser Ästhetik auf die aktuellen westlichen Modepraktiken bezogen bleiben.
Die für die westliche, weibliche Mode exemplarische Erotik, die Roland Barthes als die Rhetorik der richtigen Lücke beschrieben hat, wird von Kawakubo stillgestellt. Die erotische Topik der westlichen Körpereinteilung wird negiert. Was dabei aber übrigbleibt, ist nichts Körperfremdes. In Kawakubos Kleidernkann der Westen seine Körper neu lesen lernen: Statt der Dialektik von Verhüllung und Entblößung und den davon abhängigen Konventionen von Sexualität und Sinnlichkeit ergibt sich eine andere, in die Tiefe der Stoffe gestaffelte Sinnlichkeit wechselnder Silhouetten. Von deren Konventionalität sind wir entlastet, sie muss uns fremd bleiben. Der durchaus sinnliche Witz dieser Kleider ist uns umso unmittelbarer ansichtig. Selten hat ein interkultureller Kontextwechsel eine ästhetische Kraft so unvermittelt freigesetzt.
Jean Paul Gaultier hat humorvoll Sexualprotzerei als den Kern der westlichen Mode bloßgestellt. Dazu gehört, dass der Körper in fetischartige Partialobjekte zerlegt wird, bestimmte Teile aus dem Ganzen herausvergrößert und isoliert werden: Brust, Taille, Fuß etc. Herauspräpariert, wird dieser Teil in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt und damit zum Blickfang. Eine ganze Mechanik – wie setzt man sich mit einem kurzen engen Rock? Wie läuft man in hohen Absätzen? – wird geschaffen, die den Gegensatz von Verhüllen und Entblößen in Gang hält. Gegen eine solche Art erotisch inszenierter Körperlichkeit scheint Kawakubo einen Körper zu setzen, der nicht entblößt, zur Schau gestellt, den Blicken ausgesetzt, sondern geschützt wird, beweglich und ganz bleibt. Sie ist durch eine andere Art Erotik gekennzeichnet, die nicht mit dem Gegensatzpaar von Nacktheit und Kleid arbeitet, sondern eine Symbiose von Kleid und Körper schafft. Körperbetont ist diese Mode also durchaus, nur behandelt sie diesen nicht wie ein Fremdes, Auszustellendes, sondern wie etwas Eigenes, Intimes. Weniger scheint es bei Kawakubo um eine Vergeistigung oder ein Verstecken des Körpers zu gehen, als um eine neue Form der Verleiblichung.
Exemplarisch möchte ich das an einem Kleid zeigen, das ein Motiv aufgreift, wie es westlicher nicht sein könnte: den Torso der antiken Statue, umspielt von hauchdünnen Falten. Kawakubo trifft dieses griechische Erbe und seine klassizistische Interpretation mitten ins Herz. Das Abendkleid aus derWinterkollektion von 1984 ist exemplarisch für die verstörende Uminterpretation, die Zersetzung und Rekonfiguration des Modesystems. Das vor beinahe 30 Jahren entworfene Kleid ist so etwas wie die Poetik von Kawakubo, ein signature piece (Abb. 18). In dem Abendkleid von Comme des Garçons geht es um Falten, Nacktheit und Verhüllung. Durch eine verfremdende Neuinterpretation der Antike und ihrer klassizistischen Aneignung ist dieses Kleid so kunstvoller wie witziger Kommentar zur Idee der Verschleierung des Körpers. Hier wird das Kleid weder zu einer zweiten
Weitere Kostenlose Bücher