Angezogen - das Geheimnis der Mode
mehr Stoffpakete à la Worth mit der Pariserin assoziieren, sondern eben die knabenhafte Garçonne. Die aber zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie Bein zeigt.
In der Hosenrolle, die diesen Typus auf der Bühne vorwegzunehmen scheint, sieht Mme Henriot in unseren Augen dagegen fast modern aus. Mme Henriot en travesti zeigt eine Frau mit offenen, lockigen Haaren, einem ganz kurzen, weiß glänzenden, ausgestellten Satinkleid und wohlgeformten Beinen in weißschimmernden Seidenstrumpfhosen. Der Betrachter bekommt ein Gefühl für ihren Körper. Nichts könnte also irreführender sein als die übliche deutsche Übersetzung der »Hosenrolle«. Als Renaissancemann verkleidet, trägt Mme Henriot zwar keinen Rock, sicher aber auch keine Hosen, wie sie ihre männlichen Zeitgenossen tragen. Sie zeigt vor allen Dingen, was bei Frauen sonst unter Stoffkaskaden verschwindet: Bein. Renoir bildet die Schauspielerin in der Rolle des schönen Pagen Urbain aus Les Huguenots von Giacomo Meyerbeer ab, einer der erfolgreichsten Opern des 19. Jahrhunderts, die, wie der Titel verrät, im 16. Jahrhundert spielt: dem Jahrhundert der reizvoll bestrumpften Männerbeine. Die Sopranrolle des Pagen der Marguerite de Valois hat Mme Henriot, die Schauspielerin, aber nicht Opernsängerin war, nie gesungen.
Also wozu die Verkleidung, in der die Protagonistin nicht nur in eine männliche Rolle, sondern in eine historische männliche Rolle schlüpft? Das Bild ist dazu da, ihre makellosen Beine zu zeigen, ohne anstößig oder rufschädigend zu sein. Keine anständige Frau zeigte Bein; das hätte sie umgehend in den Ruch der Prostitution gebracht. Möglich war die Zurschaustellungder schönen Beine der Mme Henriot nur in der Verkleidung eines Mannes aus dem 16. Jahrhundert. Das ist überhaupt der Reiz der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so häufig gemalten Frauen, die als Balletteusen oder direkt in »Hosenrollen« gemalt werden. Als Torero, als Akrobatin und als Tänzerin konnten sie ungestraft das zur Schau stellen, was jede Frau sorgfältig verhüllen musste. So nimmt der Bildtypus »en travesti« die Entwicklung der Mode in der Moderne vorweg.
»Ganz individuell«: Weiblichkeit versus Business
Studiert man in Schwabing oder Oberkassel die Garderobe von Männern und Frauen, so sticht neben der Opposition von körperbetont (weiblich) versus körperbedeckend (männlich) eine zweite, vielleicht genauso wichtige Opposition ins Auge. Die Frauen drücken in ihren Kleidern selbstbestimmte Zeitgestaltung aus, die Männer tragen Berufsuniform. Sich weiblich anzuziehen heißt in Deutschland, sich anzuziehen wie jemand, der sich dem Zwang zur Arbeit und dem damit einhergehenden Aufgehen im Kollektiv entziehen kann. Egal ob sie arbeiten oder nicht, wollen deutsche Frauen nicht so aussehen, als ob sie Teil der arbeitenden Bevölkerung wären. Bei Männern dagegen bestimmt die Opposition Arbeit/Freizeit das Erscheinungsbild. Der Anzug kann militärisch windschnittig sein – Boss, Tradition verpflichtet –, knabenhaft zierlich wie bei Dior, Helmut Lang oder Jil Sander oder Männer von Gewicht kleiden: Brioni. Manchmal wird er statt mit Hemd mit T-Shirt oder Rollkragenpullover getragen. Mit Krawatte oder, exzentrischer, mit Fliege. Gedeckte Farben. Dunkel fließende Wollstoffe und im Sommer feste Baumwolle oder Leinen. Ausgefallener sind Samt oder Cord. Am Tag sieht man die Anzugträger selten,es sei denn in München um die Allianz herum, in Berlin bei Borchardts zum Mittagessen oder im Frankfurter Bankenviertel. Ihre Kleidung hat die Funktion, die Leistungsträger zu uniformieren, das Individuum in einen Kollektivkörper einzuschmelzen. Dem dienen auch der kurze Haarschnitt und das glattrasierte Gesicht. Schon ein bisschen Gel (von Guttenberg) sorgt für Aufregung. Der Berufsstand, die Corporate Identity tritt in den Vordergrund. Witzig hat man deswegen auch in Bezug auf die Banker von der Frankfurter Uniform gesprochen: gut fallendes Schwarz oder Anthrazit mit hellblauem oder hellrosa Hemd und kostbar schimmernder, vorzugsweise silbrigblauer Seidenkrawatte. Eine teure Uhr gehört dazu; etwas ausgefallener dürfen allenfalls die Manschettenknöpfe sein.
Bei Borchardts fiel mir vor kurzem ein Herr in exzentrischem Anzug aus mausgrau-rostrot-kariertem Wollflanell auf, maßgeschneidert, mit roten Strümpfen und rotem Einstecktuch. Hier war offensichtlich ein weicher Stoff, gemacht, um zu Hause und jedenfalls näher am Körper auf der Haut, als
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