Angezogen - das Geheimnis der Mode
dieser Kultivierung bleibt ihr Ursprung in der phallisch konnotierten Gewaltbereitschaft eingeschrieben. Sieht man sich etwa Bilder der Geißelung Christi aus der Frühen Neuzeit an, dann fällt auf, dass es drei Arten gibt, Körper zu zeigen: Die Körper der Apostel, der geistlichen und juristischen Autoritäten und die der Frauen sind durch üppige Falten eingehüllt und verhüllt. Nackt sind nur Gesicht und Hände; bei den Männern sieht man die bei den Frauen verhüllten, offen getragenen Haare. Bei diesen vom Tuch umhüllten, Körpern geht es offenbar um etwas anderes als um einen Ganzkörpereinsatz. Neben die verhüllten Körper treten wehrlose, nackte oder notdürftig verhüllte, verwundete Körper – Christus, die beiden mit ihm Verurteilten. Ihnen, ihrem Fleisch wird etwas angetan. Die längsten, sehnigsten und muskulösesten Beine, die knappsten, enganliegendsten Wämser in den leuchtendsten Farben haben die, die ihnen etwas antun: die Soldaten, die Folterknechte und Henker. Das ostentative Zeigen der Beine, die durch den Strumpf profiliert werden, weist auf ihre Fähigkeit und Bereitschaft hin, ihren Körper einzusetzen, um zu verletzen, Wunden zuzufügen, zu durchbohren. Dieser, seine muskulösen Gliedmaßen in farbenprächtigen, engsitzenden, prächtig verzierten Kleidern zur Schau stellende Körper wird als aggressiver Körper exponiert, dessen phallische Aspekte gerade in der kraftstrotzenden Verwundung eines wehrlosen, nackten Körpers unübersehbar werden. Den neuen Beinen der Frauen ist bei aller Zivilisiertheit etwas von dieser phallischen Zurschaustellung geblieben. Diese Körperbetonung strahlt in ihrer kraftvollen Gespanntheit Fähigkeit und Bereitschaft zur Gewalt aus. Es ist diese Ostentation des Phallischen, die den Frauen, die jetzt die alten Beine der Männer zeigen, etwas kühn Kriegerisches und damit auch etwas Verruchtes gibt.
Wie sehr die endlos langen, blickdicht bestrumpftenoder eng behosten Beine ein Zitat vorrevolutionärer Männerbeine sind, mag die Gegenüberstellung zweier Porträts von Pierre-Auguste Renoir veranschaulichen. 1874 und 1875/76, zu Zeiten der Dritten Republik, in der Charles Frederick Worth als der erste moderne Designer die Pariser Damenwelt beherrschte, malte Renoir zweimal die gleiche Frau, Mme Henriot. Renoir verfolgte die Mode seiner Zeit genau; er bezog sich auf die Modegravuren der Élégance parisienne . Beide Porträts zeigen die ganze Gestalt von Kopf bis Fuß, einmal als Schauspielerin in Hosenrolle, Mme Henriot en travesti, und einmal gewissermaßen in Zivil, La Parisienne . Die Pariserin zeigt Mme Henriot in großer Morgentoilette aus knallblauer Seide, angezogen, um aus dem Haus zu gehen, mit hochgesteckten Haaren und Hut (Abb. 5 u. 6). Das schreiende Blau des Taftkleids war das sogenannte bleu de Lyon. Die ungewohnte Leuchtkraft verdankte diese Seide dem 1850 von Henry Perkins entwickelten, aber erst in den 1860er-Jahren breiter eingesetzten synthetischen Anilin.
Das Kleid, das den Modellen von Worth sehr nah kommt, besticht durch einen Cul de Paris. Die durch Fischbein aufgebauschte Turnüre ist so raumgreifend, dass man meint, auf diesem Hinterteil wie auf einer Kommode etwas ablegen zu können. Gleich doppellagig verhüllt der Rock die zierliche Dame in Kaskaden von Volants bis zum Boden. Es ist ein Stoffbild, das den Körper mehr versteckt als zeigt. Mme Henriot, Prototyp der modernen, modisch bewussten Pariserin, kommt uns heute eigenartig verkleidet vor. Aus dem kunstvoll drapierten Stoffpaket blickt uns ein kleines, weißes Gesicht etwas verloren an. Nur die Locken wollen sich widerspenstig nicht ganz fügen. Renoir mag sich gefreut haben, dass dieses phantastische Blau zu seiner Zeit dank der Chemie günstig zu haben war und nicht mehr wie im Mittelalter als zerriebener Lapislazuli die Welt kostete. Aber auf Mme Henriot färbt etwas von dieser Billigkeit ab. Denn irgendwie erscheint diese Pariserin hier nicht als Dame von Welt, die solche Kleider tagaus, tagein trägt, sondern als verkleidete Modepuppe. Renoirs Parisienne ist nichtder von Egon Friedell so schön beschriebene Modetyp aus dem Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die »grande dame, die die Kokotte spielt«. 4 Hier scheint sich eher eine Kokotte als Grande Dame zu versuchen. Vor allen Dingen aber lauert unter den blauen Stoffmassen schon der Modetyp der Moderne: weder Kokotte noch Grande Dame, sondern Garçonne oder Gamine. Wenige Jahrzehnte später wird man nicht
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