Angriff auf die Freiheit
Wirtschaft, fehlt es auf Seiten der Bürger häufig an der eigentlich gebotenen Empörung, auf Seiten des Verwerters am Unrechtsbewußtsein. Mit größter Selbstverständlichkeit überwachen Arbeitgeber ihre Angestellten, im vermeintlich berechtigten Interesse zu wissen, was ihre Schäfchen während der Arbeitszeit so treiben. Manche Konzerne sind in letzter Zeit wie Geheimdienste vorgegangen. Ob bei der Telekom oder der Deutschen Bahn – Mitarbeiter wurden abgehört, ihre E-Mails gelesen, ihr Surfverhalten dokumentiert. Als die ersten Skandale bekannt wurden, trugen die Verantwortlichen eine verwunderte Miene und ein gutes Gewissen zur Schau. Offenbar war man überzeugt, die Mitarbeiter samt Daten gehörten in neofeudalistischer Manier dem Konzern, und es sei völlig normal, sie bei Bedarf zu überprüfen. Die mühsame Art, wie die Verantwortlichen angesichts der öffentlichen Kritik allmählich zurückruderten, verrät viel über die herrschende Mentalität. Obwohl »Daten« das Privateste sind, was ein Mensch überhaupt besitzen kann, gelten sie noch immer als eine Art öffentlicher Rohstoff, an dem sich jeder bedienen darf.
Der moderne Bürger und IT-Nutzer ist gegenüber der Überwachungsgesellschaft blind. Er genießt die öffentliche Selbstinszenierung, er wirft sich auf Webseiten in Pose, er äußert sich überall, meist unbedacht, und teilt seine intime Sphäre mit Fremden. Er entblößt sich auf den Marktplätzen der Eitelkeit, als wäre ironischerweise ausgerechnet im Internet das calvinistische Ideal des riesigen Fensters verwirklicht, durch das ein jeder die Reinheit des eigenen Lebens demonstrieren kann. In der virtuellen Welt scheint tatsächlich zu gelten: Ein guter Mensch ist, wer nichts zu verbergen hat und deshalb auch nichts verbirgt.
Aber das ist ein Irrtum. Die Verknüpfung von scheinbar unverfänglichen Daten kann intimste Geheimnisse verraten. Kommt es zu so einem Fall, ist der Nutzer entsetzt und sucht verzweifelt nach Möglichkeiten, sich und seinen Datenkörper zu schützen, um ihn wieder ins Eigene, Heimische und für Fremde Unzugängliche zurückzuführen. Es gibt Firmen, die den Service anbieten, unerwünschte persönliche Informationen aus dem Internet zu tilgen. Das kann bis zu 375.000 Euro im Jahr kosten. Die Höhe dieser Summe zeigt den Wert von privaten Daten und damit auch die Größe der Gefahr, die ihre Verbreitung für den Einzelnen mit sich bringen kann.
Das 20. Jahrhundert hat uns eine Umbruchsituation hinterlassen, in der politische und wirtschaftliche Kräfte um eine Neuverteilung der Macht ringen, ohne daß schon die notwendigen Regeln (Gesetze genauso wie ungeschriebene Verhaltenskodizes) wirksam wären, um den schwächsten Akteur im Spiel, nämlich den Einzelnen, angemessen zu schützen. Der Staat versucht, Kontrollmechanismen, die das Individuum in früheren Zeiten durch religiöse, familiäre oder ideologische Einbindung berechenbar machten, durch technische Überwachung zu ersetzen. Die Wirtschaft macht sich fit für eine Zukunft, in welcher der Bestinformierte der Stärkste sein wird. Dazwischen steht, noch einigermaßen blauäugig, der Bürger. Er läßt sich verführen, gängeln, überrumpeln; er ist dabei, sich aus Überforderung und Unkenntnis ganz preiszugeben. Dabei sollte uns allen klar sein, daß »Daten« nichts Technisch-Abstraktes sind. Der Mensch, der nicht nur ein körperliches, sondern auch ein geistiges Wesen ist, setzt sich aus Daten zusammen. Wir sind aus Zellen wie auch aus Informationen gemacht. Unsere »Daten« gehören zu uns wie unser Körper und wie die Dinge, mit denen wir uns umgeben und die wir unser eigen nennen. Dafür müssen wir ein Bewußtsein entwickeln, und dieses Bewußtsein muß den gegenwärtigen Umbau unserer Gesellschaften bestimmen. Sonst werden uns zwei Entwicklungen, die wir als Geschenke begrüßt haben – die Chance auf eine neue Weltordnung nach dem Ende der großen Ideologien wie auch die technologische Revolution – schließlich zum Schaden gereichen.
Anmerkungen zu diesem Kapitel
Epilog: Unfreie Aussichten
Neben dem Eingang zu dem Haus mit der Nummer 27B am Canonbury Square im Norden Londons hängt eine Gedenktafel an der Wand. Hier lebte George Orwell bis zu seinem Tod im Jahre 1950, hier schrieb er das berühmte »1984«, seine Vision eines totalitären Überwachungsstaates. Canonbury ist eine ruhige Wohngegend – trotzdem sind im Umkreis von zweihundert Metern von Orwells einstiger Unterkunft 32
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