Angriff auf die Freiheit
existenzielle Bedrohungen« zu verhindern. Den Generälen ist die »immense Zerstörungskraft nuklearer Waffen« durchaus bewußt. Dennoch soll über die Strategie des Kalten Krieges sogar noch hinausgegangen werden: Im neuen Kampf gegen Netzwerke wird »Abschreckung durch Eskalation« (nämlich durch den Einsatz von Atomwaffen) als adäquates Mittel betrachtet. Noch deutlicher könnte man gar nicht zeigen, wie fatal sich der Verlust einer Ordnung und die damit einhergehende Unübersichtlichkeit auswirkt: »Die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, auf das vorbereitet zu sein, was sich nicht vorhersagen läßt« – und zwar zur Not mit nuklearen Mitteln. Zugespitzt formuliert: Dem sicherheitsstrategischen Denken erscheint die Abwesenheit eines Warschauer Paktes bedrohlicher als der Warschauer Pakt.
Was der NATO ihre »wütenden hungrigen Männer«, ist den Sicherheitsbehörden al-Qaida, das »terroristische Netzwerk« schlechthin (al-Qaida bedeutet auf arabisch unter anderem »Datenbank«) – ein finsteres, weltumspannendes Spinnennetz, in dessen Mitte ein vielarmiger Fürst des Bösen die Fäden zieht. Im öffentlichen Diskurs wird viel von Dezentralisierung und gar virtueller Existenz zusammenphantasiert (als ob Terroristen zugleich existieren könnten und auch nicht). Nach dem Einmarsch in Afghanistan war auf einmal von »al-Qaida 2.0« die Rede. Aller Vernunft zum Trotz wird Netzwerken generell eine infiltrierende Macht zugeschrieben. Sie können nicht nur Flugzeuge, sondern gewissermaßen ganze Gesellschaften entführen. Der Islamismus, heißt es, habe bei uns schon längst Fuß gefaßt. Für den Unkundigen entsteht der Eindruck, al-Qaida habe zuerst den Islam unterwandert und sei nun dabei, die gesamte westliche Welt zu erobern. Netzwerke sind die Drachen des 21. Jahrhunderts. Sie sind unüberschaubar, uferlos und schwer zu kontrollieren. Und deswegen müssen den Sicherheitsbehörden immer weitere Befugnisse zur Verfügung gestellt werden. Kurz und gut: Das Netzwerk ist der perfekte Staatsfeind.
Die Mutter aller Netzwerke ist das Internet. Während es dem Einzelnen neue Lebensräume, einen ungeheuren Zuwachs an Kommunikations-, Freizeit- und Jobmöglichkeiten eröffnet, stellt es für die Sicherheitsbehörden die byte-gewordene Unkontrollierbarkeit dar. Im Zusammenhang mit dem Internet sprechen Politiker gern von «rechtsfreien Räumen«. Das irrationale Unbehagen an der neuen, weltumspannenden Technologie findet in der Widersinnigkeit dieser Aussage seine Entsprechung. Denn selbstverständlich ist das Internet nicht »rechtsfrei«. Im Internet gelten die gleichen Gesetze wie überall sonst; auch im Internet sind Betrug und Diebstahl, Beleidigung und die Verabredung von Verbrechen strafbar. Genau wie in der »echten« Welt hat die Polizei im Internet Zugang zu allen öffentlichen Bereichen, während private Sphären grundsätzlich fremden Einblicken verschlossen bleiben. Für einen totalen staatlichen Zugriff auf die Internetkommunikation gibt es keinen logischen Grund, es sei denn, man geht davon aus, im Netz wohne das Böse an sich.
Nicht zuletzt ist das Internet auch eine Plattform für kritisches Denken sowie für eine Internationalisierung sozialer und ökologischer Bewegungen. Die Globalisierung hat geholfen, die größeren Zusammenhänge von Marginalisierung und Ausbeutung zu verstehen, und das Internet ist ein entscheidendes Instrument, um dagegen anzukämpfen. Die Internationalisierung von Krisen läßt vermuten, daß kommende Jahrzehnte eine Zunahme von transnationalen Protestbewegungen mit sich bringen werden. Es wäre naiv zu glauben, die Staaten bereiteten sich nicht darauf vor. Viele der neuen Machtbefugnisse können gegen Terroristen wenig ausrichten, auf einheimische Demonstranten und Aktivisten aber einschüchternd wirken. Ein Machtmittel, das eingeführt wurde, um Terroristen zu bekämpfen, kann problemlos auch gegen unbequeme Demonstranten gerichtet werden.
Besonders sichtbar ist die Angst vor der Vernetzung von Unzufriedenen in China. Die Vorstellung, Protestbewegungen könnten sich über das Internet ausbreiten und in einem Land dieser Größe zu völlig unkontrollierbarem Widerstand führen, sorgt für Zensur im Internet sowie für die Verfolgung einer friedlichen, aber landesweit gut »vernetzten« Bewegung wie Falun Gong. In westlichen Staaten wird gern mit dem Zeigefinger nach Peking gedeutet, wenn es um Menschenrechtsfragen geht. Der gleiche Zeigefinger faßt
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