Angriff auf die Freiheit
wider besseren Rat und Warnung begehen kann, sind bei weitem nicht so schlimm wie Verhältnisse, in denen andere ihn zu etwas zwingen können, das sie für gut halten.« Damit benannte Mill ein Prinzip, das bis zum heutigen Tag für Emotionen und Streit sorgt.
Die Frage nach den zulässigen Grenzen der Freiheit wird sich niemals abschließend beantworten lassen – gerade ihre vermeintliche Beantwortung wäre ein untrügliches Zeichen für eine Gleichschaltung der Gedanken. Zu welchem Ergebnis eine Gewichtung kommt, hängt nicht unwesentlich davon ab, welches Menschenbild man vertritt. Wer, wie etwa Thomas Hobbes, dem Menschen alles Böse zutraut, wird Überwachung und Abschreckung verschärfen und durch staatliche Allmacht die freiheitliche Sphäre des Einzelnen reduzieren wollen. Wer jedoch, wie etwa John Locke, den Gemeinsinn des Menschen für bestimmend hält, wird den Privatbereich vor dem Zugriff der Autorität schützen, als eine Keimzelle gesellschaftlicher Verträglichkeit und Entwicklung.
Jenseits dieser unterschiedlichen Ansätze existiert jedenfalls ein unbestreitbarer Erfahrungswert: Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts haben nicht nur der Schreckensvision Mills vom »kollektiven Mittelmaß« recht gegeben, sondern alle konservativen Kontrollphantasien seit Hobbes diskreditiert. Denn die Auswirkungen staatlicher Übermacht haben sich als unendlich viel schlimmer erwiesen als jede individuelle Verfehlung.
Und trotzdem scheint es, als hätten wir am 11. September 2001 weltweit den Zenit des Bürgerrechtsschutzes überschritten. Grundrechte werden abgebaut, als sei das Fest der Freiheit vorüber. Ironischerweise bewegen sich gerade die USA und Großbritannien, Vorreiter in der Entwicklung des Grundrechtsschutzes, auch bei seiner Demontage an vorderster Front. Aber auch andere europäische Länder erweitern massiv die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten, schränken die Rechte von Verdächtigen ein, entmenschlichen das Gerichtssystem, weil der »Feind« keine Rechte haben soll.
Wenn inflationär von »Terrorverdächtigen« gesprochen wird, zeigt schon die Sprache an, wohin die Reise geht. Eigentlich sind Verdächtige nach unserer Rechtsauffassung immer auch Unschuldige (die Unschuldsvermutung ist eine weitere Errungenschaft des Kampfes um freiheitliche Werte). Aber die erste Hälfte des Begriffs (»Terror«) weist schon in Richtung Gewahrsam, Sondergericht und Folter. Da die NATO-Staaten einen »Krieg gegen den Terror« führen, der als Kampf gegen einen amorphen Gegner endlos sein muß, ist ein »Terrorverdächtiger« bereits ein Krimineller, der unser Leben und unsere Welt bedroht. Das Wort, so aggressiv wie seine Suggestion, setzt die Menschenrechte in Klammern. Als hätten achthundert Jahre Grundrechtsgeschichte ihre Bedeutung verloren.
Verschlimmert wird die Entwicklung durch einen um sich greifenden Fatalismus, der die Beschneidung der Freiheiten als historisches Schicksal akzeptiert. Es existiert wohl kaum ein destruktiveres Dogma als die Idee, was geschehe, sei unaufhaltsam und jeder Widerstand gegen den Zwang der Geschichte naiv, da zwecklos. Sicherheitspolitiker argumentieren im Licht dieser Auffassung, wenn sie behaupten, daß weiterreichende Eingriffsbefugnisse, die in anderen Staaten bereits bestehen, aus Gleichstellungsgründen auch bei uns eingeführt werden müßten. Ebenso verbreitet das Vorgehen der Europäischen Union jene falsche Aura der Unvermeidlichkeit. Wenn der Justizkommissar der EU seine Pläne zur Errichtung von zentralen EU-Datenbanken und Flugpassagierregistern am Rand des Lissabon-Gipfels vorstellt, während die Medien mit der Berichterstattung über den Lissaboner Vertrag beschäftigt sind, und wenn der Innenausschuß des Europaparlaments dazu hinter verschlossenen Türen tagt, wird fernab der Öffentlichkeit der nächste Schritt zur Abschaffung der Privatsphäre vorbereitet. Eines Tages landet dann die nächste zwingende Sicherheitsrichtlinie oder -verordnung bei den nationalen Parlamenten, und die Politiker zucken die Achseln und verweisen auf die Umsetzungspflicht. Es entsteht der Eindruck, wir könnten nicht mehr selbst entscheiden, wie wir in unseren Gesellschaften zusammenleben wollen.
Sechs friedliche Jahrzehnte haben dafür gesorgt, daß die Bürger die Grundrechte nicht mehr als schützenswertes Allgemeingut, sondern als eine Sammlung von Privatansprüchen auf persönliche Bedürfnisbefriedigung mißverstehen. Jeder, der sich vom Leben ungerecht
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