Angriff auf die Freiheit
Rolle ein. Es war vergleichsweise einfach, die Freiheit des Denkens zu schützen. Solange Fremde keinen Zugang zu den privaten vier Wänden hatten und das Briefgeheimnis galt, konnte sich der Einzelne in ein unverletzliches Zuhause zurückziehen. In Deutschland wurde das Briefgeheimnis schon früh (zuerst 1690 und dann 1712 in der »Allgemeinen Preußischen Postordnung«) gewährleistet. Wer dagegen verstieß, wurde hart bestraft. Die französische Nationalversammlung nahm als erste das Briefgeheimnis in die Liste der Grundrechte auf.
Aufgrund dieser politischen Errungenschaften galt: »Die Gedanken sind frei«, wie es in einem alten Volkslied heißt, dessen bekannteste Version von Hoffmann von Fallersleben stammt, der auch die bundesdeutsche Nationalhymne verfaßt hat. Heute allerdings müßte die anschließende Frage »Wer kann sie erraten?« neu beantwortet werden: nämlich jeder, der über die technische Möglichkeit verfügt, die E-Mails eines anderen zu lesen. Dem im Rückblick geradezu niedlich wirkenden Briefgeheimnis ist im Laufe der Jahre eine veränderte Bedeutung zugekommen. Kein anderes Grundrecht wurde so oft erweitert, um mit den technischen Entwicklungen Schritt zu halten, vom Fernmeldegeheimnis bis zum modernen Datenschutz. Angesichts einer zunehmend gläsernen Existenz wird es immer schwieriger, das house als castle zu verteidigen. Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, zeigt sich der Schutz von Privatsphäre und persönlicher Kommunikation in völlig neuer, zentraler Bedeutung für das Fortleben der demokratischen Gesellschaft. Wieder muß dieses Grundrecht verteidigt werden, gegen den Zugriff von Politikern, die uns weismachen wollen, solche Rechte seien in der Gegenwart überflüssig geworden. Im Gegenteil sind sie gerade angesichts einer rasanten technologischen Entwicklung, die noch lange nicht abgeschlossen ist, notwendiger denn je.
Noch bleibt die Sensibilität der Bürger weit hinter der Tragweite des Problems zurück. Kaum jemand macht sich klar, daß jede verschickte E-Mail einem unverschlossenen Brief gleicht, der weltweit von jedem Interessierten mit Internetzugang eingesehen werden kann. Man stelle sich vor, zu Zeiten des guten, alten Briefgeheimnisses hätte eine Regierung verlangt, von jeder einzelnen Postsendung eine Kopie anzufertigen und diese in riesigen Archiven aufzubewahren, um sie bei Bedarf lesen zu können! Ein solches Ansinnen wäre streng verurteilt worden. Nichts anderes aber plant die Regierung Großbritanniens mit dem Einsatz sogenannter »Black Boxes«, die jede E-Mail und jeden Website-Zugriff speichern sollen. Die geplante Megadatenbank trägt den edlen Namen »Intercept Modernisation Programme«. Schon bislang darf der britische Geheimdienst alles abhören und speichern, braucht dafür aber jeweils eine Erlaubnis des Innenministers, die allein im Jahre 2007 etwa 500.000mal angefordert wurde. Eine derart umfassende Kontrolle hat es noch nie gegeben, nicht unter Nero, Henry VIII., Louis XIV., Napoleon, Franco, nicht einmal unter Hitler oder Stalin. Das heutige Großbritannien, Wiege der modernen Demokratie, ist nur noch einen administrativen Schritt vom größten Überwachungsstaat aller Zeiten entfernt.
Aber das, heißt es, geschehe ja nur zu unserem Schutz. »Freiheit« dürfe doch nicht als eine Freiheit zur Begehung von Straftaten mißverstanden werden. Natürlich: Indem sich »Freiheit« zum zentralen Begriff der Gesellschaftslehre entwickelte, intensivierte sich auch die Diskussion, welche Grenzen dieser Freiheit gesetzt werden müßten, damit die Freiheit eines Menschen nicht die anderer bedrohe. Aber obwohl die meisten Denker für eine Beschränkung der Handlungsfreiheit eintraten, um Schaden von anderen abzuwenden, forderten sie mit gutem Grund, einen gewissen persönlichen Freiraum unter allen Umständen zu garantieren. Die Wahrung eines solchen Intimbereichs ermögliche erst die Entfaltung des Menschen in seiner ganzen Eigenwilligkeit – und damit seine Würde. John Stuart Mill vertrat die Auffassung, die Zivilisation selbst hänge von diesen Grundsätzen ab, denn ohne freien Gedankenaustausch komme die Wahrheit nicht ans Licht, gebe es keinen hinreichenden Raum für Spontaneität, Originalität, Widerspenstigkeit, woraus der Geist und das Denken schöpften. Aus Vielfalt würde Konformität, die nur »beschränkte und bornierte, verkrampfte und verkrümmte Menschen« hervorbringe. Mill ging noch einen Schritt weiter: »Alle Irrtümer, die ein Mensch
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