Angriff der Killerkekse. Unglaubliche Reportagen und atemlose Geschichten (German Edition)
sein Platz, hier sitzt er immer, wenn er in die Sprechstunde kommt. Sofort widmet er sich den Zeitschriften auf dem Nierentisch, dessen Oberfläche schwarz glänzt und mit einem Muster in Türkisblau und Altrosa sowie goldenen Sprenkeln verziert ist. »Nervenheilkunde«, »Psychologie heute«, »Der Nervenarzt«, »Zeitschrift für Gerontopsychologie« und andere medizinische Fachblätter liegen zur Lektüre aus. Der Mann lächelt sanft und zieht eine zerfetzte »Micky Maus« unter dem Stapel hervor. Er hatte das für Kinderpatienten gedachte Heft bei seinem letzten Besuch dort abgelegt und nimmt es nun schmunzelnd zur Hand! Mit kindischer Freude blättert er in den Erlebnissen von Donald, Dagobert und ihren drei jungen Neffen und genießt die Stille. Da dringt eine Fistelstimme an sein Ohr. –
»Was Sie nicht sagen! Und das hat Sie wirklich gesagt?!« – Verstört blickt der Mann im Sessel auf. Wer spricht da, ist denn außer ihm noch jemand im Zimmer? Ja, da klingt offensichtlich ein menschliches Stimmchen. – »Manche Leute sind völlig plemplem«, tönt es erneut, und da sieht er es: ein dürres Männlein mit einer maisgelben Strickmütze hockt auf einem Stuhl, den er ganz nah an den Gummibaum heran gezogen hat. Der Schlacks wird fast von der Pflanze verdeckt, mit der er sich offenbar angeregt unterhält. Aber der Gummibaum hat doch noch nie gesprochen! Wieso spricht er denn plötzlich?
Irritiert verstaut der Dicke das Comic-Heft wieder unter dem Stapel und erhebt sich. Als suche er nach neuer Lektüre, geht er unbeteiligt zu dem Tisch in der Raummitte und greift eine der dort liegenden Illustrierten, um darin zu blättern. Dabei schielt er auf den Kerl im Baum. Der hält den Kopf gesenkt und liegt fast auf einem der tellergroßen, dunkelgrünen Blätter. Seine Augen sind geschlossen, nur die Lippen bewegen sich im Zwiegespräch: »Was Sie hier alles erleben! Ich würde gern einmal mit Ihnen tauschen, Herr Gummibaum, und hier im Zimmer Mäuschen spielen« , seufzt die gelbe Mütze.
Der Dicke versteht immer noch nicht, was die Grünpflanze erzählt. Er greift die Illustrierte und bewegt sich langsam in Richtung Erker, um wie zufällig an seinem Mantel an der Garderobe zu fingern. Ein dünnes Lachen weht von der anderen Seite des Baum herüber: »Die Alte kenn ich, die ist komplett verrückt! Was werden hier nur für Leute behandelt!« . – Er tut einen weiteren Schritt vor, als wolle er aus dem Fenster auf die Straße schauen und legt dabei sein Ohr auf eines der fleischigen Blätter der Grünpflanze. – »Das ist wirklich kaum zu glauben!«, hört er die Strickmütze piepsen.
Für ihn bleibt der Baum stumm. »Herr Gummibaum, Herr Gummibaum, ich kann Sie nicht verstehen« , flüstert er seinem alten Freund leise zu. Das Gewächs starrt still. Es missachtet ihn. Auf der anderen Seite der Pflanze brabbelt das Männlein derweil unverdrossen vor sich hin und amüsiert sich königlich über die Geschichten, die der alte Baum zum Besten gibt: »Köstlich! Köstlich! Das müssen Sie mir jetzt aber ausführlicher erzählen.« –
Gekränkt verbeugt sich der Mann vor seinem langjährigen Bekannten und schleppt sich wieder auf den Besuchersessel zurück. Er ist knatschig und auch ein wenig sauer. Die Pflanze kann sprechen, und er hielt sie stets für stumm! Seit Jahren plaudert er freundschaftlich mit dem Gummibaum, und jetzt muss er erfahren, dass der Strauch ihm die Rolle des Stummen nur vorgespielt hat. Dafür spricht das Gewächs mit einem dürren Schleimer, der fast in ihr Blätterwerk hinein kriecht! Ist das der Lohn für die vielen Freundlichkeiten, die er dem Baum in den letzten Jahren zukommen ließ? Er versteht die Welt nicht mehr, die hier besser geordnet ist als sonst wo in der Stadt. –
Endlich wird die Flügeltür geöffnet. Ein Arzt in weißem Kittel nickt ihm einladend zu und bittet zur Audienz: »Der Nächste bitte! Der Dicke springt auf, er drückt dem Doc die Hand und keucht aufgeregt: »Herr Doktor, Herr Doktor, der Baum, der alte Gummibaum … er spricht, ja, er spricht!« Sanft schaut ihn der Mediziner an und streicht seinen melierten Knebelbart, bevor er antwortet: »Es tut mir wirklich leid, und es ist mir auch ein wenig unangenehm. Aber der Baum ist eine alte Klatschtante. Erst heute früh habe ich ihn verwarnt, sich zurückzuhalten mit den Krankengeschichten, die er hier zum Besten gibt. Aber, versuchen wir den Gummibaum zu verstehen: er ist schrecklich einsam
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