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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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tragen, da er sie so schneller ziehen konnte. Bei dem Täschchen hätte er zunächst den Reißverschluss öffnen müssen, da wären Sekunden verflossen, die ihn das Leben hätten kosten können. Ich denke, dass er das so kalkuliert hat.
    Mein Vater trug ein kariertes Sakko und eine graue Stoffhose, dazu bequeme Schuhe, Schuhe für einen sicheren, festen Stand. Ich glaube, dass er seriös aussehen wollte, wenn er verhaftet würde, nicht wie ein Strolch, dem gerade ein Verbrechen passiert ist, sondern wie ein reifer Mann, der etwas getan hat, was er sich genau überlegt hat, der überdies das Richtige getan hat, auch wenn es nicht allen möglich ist, dies so zu sehen, insbesondere nicht der Justiz, deren Zuständigkeit und Kompetenz ich damit aber nicht bestreiten will.
    Wir waren uns, als wir einander begrüßten, einmal mehr nicht sicher, ob wir uns die Hand geben oder uns umarmen sollten. Mein Vater streckte mir die rechte Hand unentschlossen entgegen, und ich wollte sie schon nehmen, besann mich aber, wie gleichzeitig mein Vater auch, wir zogen die Hände zurück und umarmten uns auf eine fast körperlose Weise, ohne Drücken, ohne dass sich unsere Wangen berührten, schnelles Wegsehen danach. Mehr war uns damals nicht möglich. Er kam herein, ich machte ihm einen Espresso, während er Gläser mit selbstgemachter Marmelade aus seiner Tasche zog, Kirsche, Quitte. Ich wunderte mich, dass meine Mutter auch diese Gelegenheit nutzte, uns Marmeladen aus ihrer unermüdlichen Produktion mitbringen zu lassen, aber so ist sie eben. Dann saßen wir in der Küche, und ich erzählte von den Kindern, den neuesten Stand. Das war ein sicheres Thema zwischen uns, wir hatten nicht viele. Das heißt, es gab eine Menge Themen, vor denen ich Angst hatte, vor allem seine Erinnerungen an Ford Marschewski. Am Abend lief ein Pokalspiel, Bayern gegen Bremen, das wir uns anschauten. Wir tranken eine halbe Flasche Rotwein, dann gingen wir zu Bett. Herrn Tiberius haben wir nicht erwähnt.
    Am nächsten Tag las er auf dem Sofa «auto motor und sport». Er hatte sich einen Stapel Zeitschriften mitgebracht, das machte er immer so, wenn er uns besuchte. Er konnte sich einen ganzen Tag lang damit beschäftigen, ich glaube, er liest jeden Artikel, weshalb ich, bevor ich ihn besuche, im Gefängnis besuche, um es hier einmal gegen unsere Gewohnheit auszusprechen, einen Presseladen halb leer kaufe, vor allem Auto- und Waffenzeitschriften, aber auch Politisches. Mein Vater interessiert sich sehr für Politik. Vielleicht sind das gar nicht so unglückliche Stunden für ihn, wenn er in seiner Zelle liest, wo ihn niemand stört und er kein schlechtes Gewissen haben muss, dass seine Lesestunden anderen die Zeit nehmen, die sie gerne mit ihm verbracht hätten, seiner Frau zum Beispiel, früher auch seinen Kindern.
    An diesem zweiten Tag seines Besuchs passierte nichts. Herr Tiberius im Souterrain verhielt sich ruhig, ich hörte nichts von ihm außer hin und wieder die Toilettenspülung, er war also da. Er war eigentlich immer da. Beim Abendbrot erzählte mir mein Vater von einer neuen Zylinderkopftechnik, vielleicht auch Vergasertechnik, ich weiß es nicht mehr genau, danach von neuen israelischen Siedlungen im Westjordanland. Das führte ihn weit zurück in die Geschichte dieser Region, mein Vater liest gern historische Bücher. Dazu tranken wir den Rest des Rotweins. Als mein Vater gegen Mitternacht alles gesagt hatte, was er zu diesem Thema sagen wollte, gingen wir zu Bett. Ich wunderte mich. Worauf wartete er? Wir hatten nichts besprochen, aber es war vollkommen klar, weshalb er hier war. Darauf hatte sich unsere Familie ohne Worte verständigt. Da konnte ich mich doch nicht täuschen?
    Am nächsten Morgen stand ich früh auf und ging in den Garten. Es hatte ein paar Tage lang nicht geregnet, und ich stellte den Rasensprenger auf und ließ Wasser über das Gras, die Beete und Sträucher regnen. Ich glaube, dass ich dabei gehofft habe, einen Schuss zu hören, damit es endlich vorbei wäre, aber ich hörte nur die Vögel und manchmal das Rumpeln auf dem Kopfsteinpflaster. Ich drehte eine Runde ums Haus und passierte dabei auch die Fenster des Souterrains. Es sind vier Fenster. Links hatte Herr Tiberius sein Schlafzimmer, in der Mitte war die Küche, rechts das Wohnzimmer mit zwei Fenstern, eines nach vorne, eines zur Seite, die Fenster sind klein und liegen tief, direkt über dem Boden. Herr Tiberius lebte in der Düsternis. Ich sah ihn bei meinem Rundgang

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