Angst (German Edition)
wehren uns dagegen. Wir haben keine Bürgerinitiative gegründet, so pathetisch sind wir nicht in dieser Straße, aber der Mann von gegenüber, ein Radiologe, hat Unterschriften gesammelt, und ich habe selbstverständlich für meine Gaslaterne unterschrieben, für meine und die anderen in dieser Straße. Für mich ist Licht nicht nur in der Welt, um Licht zu spenden, sondern auch, um Wärme zu geben. So war es doch von Anfang an, wenn ich das richtig sehe, seit dem ersten Feuerchen, an dem Menschen saßen. Es soll einem im Lichte heimelig werden und nicht kalt. Aber das elektrische Licht, zumal die neuen Glühbirnen, lassen einen schaudern vor Kälte.
Jetzt höre ich ein Ticken, das sind die Krallen unseres Rüden auf dem Parkett. Er kommt aus einem der Kinderbetten und geht in die Küche, um etwas zu trinken. Unser Benno, ein Rhodesian Ridgeback, groß, stark. Er ist nicht scharf, aber er hat uns das Gefühl von Sicherheit zurückgegeben. Selbst nach dem Tod von Herrn Tiberius blieben wir eine nervöse Familie. Jetzt sind wir das nicht mehr. Wir hätten ihn nicht, hätte es Herrn Tiberius nicht gegeben.
Ich verfasse also einen Bericht, weil ich hoffe, dass ich eher etwas schreiben kann als etwas sagen. Aber um die Sätze, die Rebecca fehlen, aufschreiben zu können, muss ich erst die Vorgeschichte loswerden, die ganze Geschichte. Ein Verbrechen ist geschehen, ein Verbrechen, das wir wollten, und wie bei jedem Verbrechen gibt es eine Entwicklung, die darauf zuführt. Ich will das Ganze erzählen, nicht nur das Fehlende, damit man das Fehlende versteht, einordnen kann. Es ist gut, dass ich dabei auf die Gaslaterne schaue, auf das warme Licht über den großen Autos, die vor Häusern stehen, die so friedlich wirken in der Nacht. Im Wohnzimmer des Radiologen flimmert grau das Licht eines Fernsehers.
Auch ich lese gerne historische Bücher, wie mein Vater, und ich kenne selbstverständlich die simpelste Falle der Geschichtsschreibung: Man schaut von einem Großereignis aus zurück, einem Weltkrieg zum Beispiel, und dann steht alles, was vorher geschah, unter diesem Eindruck, und es finden sich beinah zwangsläufig eine Menge Ereignisse, die zu diesem Krieg führen, die diesen Krieg unvermeidlich erscheinen lassen. Der Historiker sucht nach Linien und vernachlässigt die Macht des Zufalls. Ich, Randolph Tiefenthaler, fünfundvierzig Jahre alt, Architekt, verheiratet, Vater zweier Kinder, nunmehr entschlossen, zum Historiker meines eigenen Lebens zu werden, will in diese Falle nicht tappen, will mein Leben so nicht sehen. Andererseits kommt ein Großereignis nicht aus dem Nichts, es muss Ursachen haben, es muss eine Geschichte haben, und die beginnt oft Jahrzehnte davor. Es ist immer beides, denke ich, Zufall und Zwangsläufigkeit. Hätten wir Herrn Tiberius gesehen, bevor wir die Wohnung gekauft haben, hätten wir die Wohnung nicht gekauft, sicher nicht. Dass wir ihn nicht gesehen haben, ist ein Zufall. Dass er deshalb sterben musste, liegt wohl an der Geschichte meines Lebens, das kann ich nicht leugnen.
Ich traue mich kaum, es hinzuschreiben, weil es so entsetzlich banal wirkt, aber mein Leben begann mit der Angst vor einem Krieg, begann mit der Angst vor dem Einsatz von Waffen. Als meine Mutter hochschwanger war mit mir, im Oktober 1962, kaufte mein Vater viele Kisten mit Konserven und Mineralwasser und stapelte sie im Keller, weil meine Eltern für einen Nuklearkrieg gewappnet sein wollten. Sie hatten die kleine, fast rührende Hoffnung, einen Atomschlag in ihrem Keller überleben zu können, wollten ein paar Tage oder Wochen abwarten, bis die Feuer erloschen waren und die radioaktive Strahlung abgenommen hatte, um dann in einer verwüsteten Welt weiterzuleben, mit ihrer Tochter, meiner Schwester Cornelia, damals ein Jahr alt, und ihrem Sohn, der dann in diesem Keller geboren worden wäre. Es war der Keller eines Berliner Hochhauses, ein Verschlag hinter einer Brettertür, wo die Fahrräder meiner Eltern standen und die Dinge, die sie in ihrer Wohnung nicht unterbringen konnten, die aber zu wertvoll waren, weniger materiell als ideell, um sich von ihnen zu trennen, darunter eine krude Enzyklopädie, deren jeweils neuester Band Monat für Monat mit der Post geliefert wurde. Diese Enzyklopädie glänzte weniger durch verlässliches Wissen als durch einen aufwendigen Einband, der den hohen Preis rechtfertigen sollte. Meine Oma hatte sich dieses Abonnement an der Haustür aufschwatzen lassen und schenkte es ihrer
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