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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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solchen Situationen nicht mehr sprechen wollte oder konnte. Alles, sagte der Mann. Gut, dann alles, sagte meine Mutter. Ich hatte jetzt Angst. Ich hatte Angst vor diesem Mann, der uns so barsch Befehle gab. Ich hatte auch Angst, dass mein Vater seine Waffe ziehen und eine Schießerei beginnen würde. Er konnte nicht gewinnen, das war mir klar, weil hier viele Männer mit Militärmützen herumstanden. Sie trugen Pistolen, das hatte ich bereits wahrgenommen, einige sogar Gewehre und Maschinenpistolen. Ich wusste damals nicht, dass mein Vater, der eigentlich immer bewaffnet war, in dieser Situation nicht bewaffnet war, weil niemand so wahnsinnig sein konnte, sich einem Grenzposten der DDR mit einer Pistole im Holster zu nähern, schon gar nicht mit einer Frau auf dem Beifahrersitz und drei Kindern auf der Rückbank. Meine Angst war also unbegründet. Mein Vater konnte keine Schießerei beginnen, er hatte keine Waffe zur Hand. Erst Jahre später erfuhr ich von meiner Mutter, dass ich durchaus Grund hatte, Angst zu haben. Mein Vater, der es nicht aushalten konnte, über mehrere Tage unbewaffnet zu sein, hatte sich nach Feierabend in der Werkstatt von Ford Marschewski ein verstecktes Fach in seinen 12M geschweißt. In diesem Fach lag seine Pistole oder sein Revolver, womit seine Nervosität zum großen Teil erklärt ist. Allerdings waren die Leute, die vor und hinter uns ihre Autos ausräumten oder wieder einräumten, ebenfalls nervös. Es war eine fürchterliche Situation. Wir Kinder sahen zu, wie unsere pragmatische Mutter ihr Werk großer Packkunst ungerührt auflöste, während unser Vater vor Angst oder Wut oder beidem gelähmt war und nur noch mechanisch nach ihren Anweisungen handeln konnte, obwohl das Entladen eines Autos so viel leichter ist als das Beladen. Dann hieß es, wieder barsch, die Koffer seien auszupacken. Nun handelte nur noch meine Mutter, mein Vater saß mit halbem Hintern auf dem Beifahrersitz, die Füße auf dem Asphalt, den Kopf in die Hände gestützt. Meine Mutter holte unter den Blicken zweier Militärmützenmänner Hosen, Hemden und Röcke aus unseren Koffern, nur mit der linken Hand, weil sie mit dem rechten Arm meinen kleinen Bruder hielt, der zu weinen begonnen hatte.
    Wir richten manchmal, gar nicht so selten, Abendgesellschaften in unserer Wohnung aus, in Wahrheit sind das größere Abendessen, denen wir aber einen etwas pompösen Namen gegeben haben, zunächst ironisch, dann aus Tradition. An einem dieser Abende habe ich, als es um das Thema Würde ging, von meiner Mutter erzählt. Ich habe erzählt, wie sie dort vor unseren Koffern hockte, ein Kleidungsstück nach dem anderen hervorzog, es den Grenzern kurz präsentierte und dann auf den Stapel neben den Koffern legte. Sie hat das mit allen Sachen so gemacht, auch mit ihrer Unterwäsche, Stück um Stück zog sie hervor, hielt es den Grenzern hin und legte es ab, ungerührt, gleichmütig. Ihr jüngstes Kind schniefte an ihrer Seite, ihr Mann durchlebte einen depressiven Schock, ihre Tochter musste dringend aufs Klo, traute sich aber nicht, zur Toilette zu gehen, und ihr älterer Sohn hatte ständig Angst, dass unter dem nächsten Büstenhalter, unter dem nächsten Hemd eine Waffe auftauchen könnte. Als meine Mutter den Grenzern unser gesamtes Gepäck gezeigt hatte, packte sie die Koffer, Taschen und Tüten wieder ein und verstaute erneut alles in unserem Ford, wieder mit Geschick und Optimismus und einer Miene, als täte sie das gerne. Mein Vater sah nicht hin, er saß schon hinter dem Steuer und starrte in Richtung Helmstedt, wo der Westen begann. Nachdem meine Mutter alles verstaut hatte, sagte sie freundlich auf Wiedersehen, schönen Tag noch, stieg ein, und wir fuhren davon, Tempo hundert, nicht einen Stundenkilometer mehr. An dieser Stelle unterbrach mich einer unserer Gäste, Geschäftsführer einer Filmproduktionsgesellschaft, und sagte: Die Bundesrepublikaner sind jahrzehntelang durch die DDR geschlichen, in ängstlicher Bravheit, aus Angst vor einem Strafmandat haben sie sich angepasst, und nun machen sie den Ostdeutschen Vorhaltungen, weil die meisten angepasst gelebt haben, aus Angst vor Bautzen. Sind Sie denn Ostdeutscher, fragte ein anderer Gast, eine Krankenhausärztin. Nein, sagte der Geschäftsführer. Aber ich bin Ostdeutscher, sagte ein Journalist, der spät in der Nacht ein Kulturmagazin im Radio moderiert, und ich gebe Ihnen recht, die Westdeutschen waren wie die Ostdeutschen, sobald sie in der DDR waren, wir

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