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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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korrigieren, er würde mich nach dem Schuss kritisieren, weil ich wieder alles falsch gemacht hatte, und er würde bald ungehalten sein, er war kein geduldiger Lehrer. Ich verstand ihn ohnehin kaum, weil ich den Gehörschutz trug, aber den wollte ich nicht abnehmen, weil rechts und links von mir ständig geschossen wurde, also hörte ich fast nichts von dem, was er sagte, sah nur sein Gesicht, in dem sich die Ungeduld sammelte, um schließlich in Zorn umzuschlagen. Im schlimmsten Fall würde er weglaufen, auch das war schon vorgekommen, wenn ich nach dem dritten oder vierten Schuss immer noch nicht richtig atmete – einatmen, ausatmen, halb einatmen, Atem anhalten – oder in letzter Sekunde einen krummen Rücken gemacht hatte, meine Schutzhaltung. Dann stand ich da, allein, hilflos, umgeben von Männern mit Schießbrillen, die hochkonzentriert waren, still, starr, ohne Blick, ohne Herz für meine Not. Vielleicht übten diese Männer für Morde, dachte ich. Zwar würde mein Vater wiederkommen, er kam ja immer wieder, aber das machte es hier auf dem Schießstand nicht besser, halb beruhigt würde er sein, und dann würde es weitergehen, seine unverständlichen Worte, sein Ungeduldsgesicht, das sich unvermeidlich in ein Wutgesicht verwandeln würde, besser gesagt: in ein Zorngesicht, denn die Wut ist etwas Menschliches, der Zorn packt die Götter, und so kam er mir vor in seiner Allmacht: mein zorniger Gott, mein Ares. Es gab keinen Ausweg, ich musste schießen, also schoss ich. Manchmal traf ich auch.
    Nach dieser Tortur saßen wir in der Holzbaracke, ich aß ein Würstchen und trank eine Fassbrause, mein Vater trank ein Bier, immer nur eins, und putzte die Pistolen, die wir benutzt hatten. Meist blieben wir für uns, mein Vater war und ist nicht gesellig. Zum Schießplatz ging er, um zu schießen, nicht, um Leute zu treffen. Er besuchte keine Versammlungen, keine Feiern, das Vereinsleben bedeutete ihm nichts. In der Baracke saßen noch andere Männer, manchmal war auch eine Frau da, die ich immer mit großem Befremden ansah, weil in den Büchern und Heften, die ich las, Frauen nicht schossen. Wenn Frauen auftauchten, wurde kurz darauf geküsst, und das war mir peinlich und lästig, weil die Geschichte, die mich interessierte, dann stockte. Die Jagd nach Verbrechern oder Indianern war unterbrochen, bis der Held endlich genug hatte von diesen fürchterlichen Küssen. Die Frau vom Schießplatz war mir daher verdächtig. Warum kam sie an unseren Tisch und klopfte auf die Holzplatte? Was wollte sie von meinem Vater? Er klopfte ebenfalls, dann ging die Frau weiter und klopfte auf die Tische, an denen andere Männer saßen. Schließlich setzte sie sich auf die Eckbank hinter den runden Tisch, wo immer am meisten geredet und gelacht wurde. Ich behielt sie im Auge. Während mein Vater die Pistolen putzte und sein Bier trank, machte er Pläne, welche Waffe er mir demnächst kaufen würde, ein Geschenk, Geburtstag und Weihnachten zusammen, eine Waffe ist teuer, meine erste eigene Waffe, eine Pistole. Ich habe die Namen der Modelle, die er mit zärtlicher Stimme erwog, vergessen, ich weiß es wirklich nicht mehr. Ich erinnere nur die Stimmung an unserem Tisch, ich hatte mein Martyrium, meinen Gottesdienst hinter mir, spürte die Liebe meines Vaters und diskutierte mit ihm die Vor- und Nachteile, die verschiedene Handfeuerwaffen für einen Neunjährigen hatten.
    Auch wenn ich keine Pistole haben wollte, auf keinen Fall, mochte ich die Stunden, in denen sich mein Vater etwas vorstellte. Er hatte Phantasie, er konnte sich großartige Dinge ausmalen und sich vorab begeistern, als würde er sie schon erleben. Trotz des enttäuschenden Verlaufs der letzten Schießübungen malte er sich aus, wie ich mit meiner eigenen Pistole dereinst die Deutsche Jugendmeisterschaft gewinnen würde, und er war glücklich dabei. Ich sah mich mit einem Pokal im Arm.
    Meine liebsten Stunden mit meinem Vater, meine liebsten Stunden überhaupt waren unsere sonntäglichen Spaziergänge im Grunewald. Erst waren wir alle zusammen, aber nach einer halben Stunde schritt mein Vater kräftiger aus, und nur ich konnte noch mithalten, meine Schwester und mein kleiner Bruder trotteten an der Seite meiner Mutter hinterher. Nun, wusste ich, würde sich mein Vater ausmalen, welche Reisen wir beide miteinander machen würden. Das waren ausschließlich Abenteuerreisen, mein Vater hatte als Junge viele Abenteuerbücher gelesen, und sie hatten ihn zu einem Abenteurer

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