Angst (German Edition)
Schwiegertochter, die aber, obwohl sie die Schule nur neun Jahre lang besuchen konnte, den dürftigen Geist der Enzyklopädie durchschaute und sie im Keller stapelte, um sie bei Nachfragen hervorziehen zu können. Kartoffeln lagerten auch in diesem Keller, glaube ich. Aber er wurde nicht der Ort, wo ich in die Welt fand, das wurde ein Krankenhaus. Als ich am 30. Oktober den Bauch meiner Mutter verließ, war die Krise vorüber. Chruschtschow hatte zwei Tage zuvor angekündigt, dass er die Raketen von Kuba abziehen würde. Kennedys Hartnäckigkeit hatte sich ausgezahlt.
War mein Leben damit vorgezeichnet, war ich ein Kind, dem bestimmt war, dass Waffen seine Biographie beherrschen sollten? Nein, meine Eltern sahen es anders. Für sie war ich ein Friedenskind, ein Zeichen der Hoffnung. Chruschtschow habe sich nachgiebig gezeigt, um mir ein gutes, friedvolles Leben zu ermöglichen, sagte meine Mutter, als sie mir von dieser Zeit erzählte, im Scherz natürlich, so wie Mütter solche Dinge im Scherz sagen. Meine Mutter fand den Gedanken nicht abstrus, dass Chruschtschow in einem tieferen Sinne für sie und ihre Familie eingelenkt hatte.
Es ist ein Zufall, dass ich zu Zeiten der Kubakrise, als die ganze Welt über Waffen nachdachte, im Bauch meiner Mutter war. Die Frage ist, ob diese Zeit nicht trotzdem maßgeblich ist für mein Leben. Ohne Frage hat meine Mutter damals eine Menge Angst gehabt, sie lebte in Berlin, der Frontstadt des Kalten Krieges. Wenn die Russen Berlin nicht vernichtet hätten, um die umliegende DDR zu schonen, dann hätten die Amerikaner Berlin vernichtet, um die umliegende DDR auszulöschen. Es war egal, ob die Raketen aus dem Osten oder aus dem Westen eingeflogen wären, meine Eltern rechneten damit, Kriegsopfer zu werden. Eine Schwangere hat doppelt Angst, denke ich mir, Angst um sich und Angst um ihr Kind, das sie schützen will, aber nicht gut schützen kann, sie ist besonders verletzlich, weil besonders unbeweglich. Das war der Zustand meiner Mutter, als ich in ihrem Bauch wohnte. Ich weiß nicht, wie sich die Ängste von Müttern auf ihre Föten auswirken, ich habe nichts darüber gelesen, aber man ahnt ja, dass es so ganz ohne Wirkung nicht bleiben kann. Ich habe mir, ehrlich gesagt, nie Gedanken darüber gemacht. Erst seit Herrn Tiberius, erst seitdem ich mitunter versucht bin, mir mein eigenes Leben als Kriegsgeschichte zu erzählen, befasse ich mich mit solchen Dingen. Hatten wir zu viel Angst vor ihm? Und woher kam das? Aber bitte, dann müssten ja alle Oktober-, November- und Dezemberkinder des Jahres 1962 Angstkinder sein, und so ist es sicher nicht.
Ich bestehe auch nach Herrn Tiberius darauf, dass ich eine normale Kindheit hatte, eine Kindheit ohne viel Geld, mit Raufereien, wenig Schulnöten und mit liebenden Eltern. Wir wohnten damals im Foxweg in Reinickendorf, einer Neubausiedlung, rote Hochhäuser, dazwischen Rasen, ein Spielplatz und das Stadion von Wacker 04, einem Fußballverein, für den ich in den Jugendmannschaften im Tor stand. Meinen Eltern kam diese Stadt, die im Zentrum des Kalten Krieges lag, offenbar nicht gefährlich vor, denn ich erinnere mich, dass ich viel mit dem Bus fuhr, ohne meine Eltern, und das muss vor meinem zehnten Geburtstag gewesen sein. Kurz nach diesem Geburtstag sind wir umgezogen, von Reinickendorf nach Frohnau, wo sich meine Eltern eine Doppelhaushälfte gekauft haben. Für meine Erinnerung ist das günstig, weil ich ziemlich genau weiß, was vor dem Umzug war und was danach. Und die Fahrten mit dem Bus waren davor. Ich weiß nicht mehr, warum ich so viel unterwegs war, müsste meine Mutter einmal fragen, aber ich saß auf jeden Fall viel in diesen blassgelben Doppeldeckerbussen, drängelte mich vor an der Haltestelle, sobald der Bus eintraf, stürmte die schmale Treppe hinauf und setzte mich in die erste Reihe. Eine Fahrt ohne diesen Platz war eine verlorene Fahrt, ich ließ Busse aus, wenn ich sah, dass die beiden Bänke in der ersten Reihe besetzt waren. Hier hatte man den besten Blick, nur hier gab es dieses kleine Kribbeln im Bauch, weil man den Eindruck haben konnte, an einem beweglichen Abgrund zu sitzen. Es war herrlich.
Ich erinnere den Chlorgeruch nach Besuchen im Hallenbad, die brennenden Hände, wenn man eine Portion Pommes frites aus einer Papiertüte aß, den ersten Hamburger meines Lebens auf dem Deutsch-Amerikanischen Volksfest, lange vor McDonald’s, die Stierkämpfe auf dem Deutsch-Französischen Volksfest, an denen ich
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