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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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bin ich in der Zeit der kleinen Kinder wieder nähergekommen, vor allem meiner Mutter, die eine großartige Großmutter ist. Auch mein Vater macht das nicht schlecht, manchmal habe ich dann ein seltsames Gefühl und möchte auf keinen Fall, dass das Eifersucht ist. So wie es verschiedene Erzählungen über den Ehepartner gibt, gibt es wohl auch verschiedene Erzählungen über die Eltern.
    Ungefähr ein halbes Jahr nachdem meine Schwester gestorben war, rief mich eines Tages meine Mutter an. Ich weiß noch genau, dass es ein Dienstag war, ich zankte gerade mit Maurern auf einer Baustelle, als mein Handy klingelte und meine Mutter aufgeregt rief, der Vati sei beim Frauenarzt. Es ist eine Eigenart von ihr, Vati zu sagen, obwohl keines ihrer Kinder jemals Vati zu ihrem Mann sagte, mein kleiner Bruder nicht, ich nicht und auch nicht meine Schwester. Ich wusste sofort, was sie meinte, als sie den Frauenarzt erwähnte. Der Frauenarzt ist der Feind unserer Familie, weil er Cornelias Brustkrebs übersehen hat. Eine Sprechstundenhilfe rief an, sagte meine Mutter. Ich ließ die zänkischen Maurer stehen, rannte zu meinem Auto und raste los. Ich wusste, wo die Praxis ist, und ich, ein Legalist, der sich sogar als Fußgänger schwertut, bei Rot über die Straße zu gehen, missachtete jedes Signal, jedes Schild, das nicht günstig für mein Weiterkommen war. Meinem Vater habe ich ein Massaker immer zugetraut. Wenn in den Nachrichten gesagt wurde, es habe einen Amoklauf gegeben, hielt ich den Atem an und war erst beruhigt, als klar war, dass es mein Vater nicht gewesen sein kann. Das ist paranoid, ich weiß, aber so ist es eben, wenn man aufwächst wie ich. Ich sah schon, wie sich die Leichen in der Praxis von Cornelias Frauenarzt türmen und das Blut in breiten Bächen fließt, ich parkte in der zweiten Reihe, rannte die Treppen hinauf, drei Stufen auf einmal, und betete, obwohl ich nicht mehr bete, dass ich nicht jetzt, in letzter Sekunde, Schüsse hören würde. Wo ist mein Vater, rief ich den Sprechstundenhilfen zu, und sie zeigten auf das Wartezimmer. Dort hockte er auf einem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. Links von ihm saß eine Schwangere, rechts eine Frau, die ihr Baby stillte. In einer Ecke spielte ein Kind mit Klötzchen. Das Wartezimmer war zu zwei Dritteln voll, ein Dutzend Frauen. Mein Vater sah mich nicht, das heißt, er nahm mich nicht wahr, stierte vor sich hin. Als ich ihn an der Schulter berührte, erschrak er leicht, aber nicht so stark, dass er zu seiner Waffe griff. Ich bin’s, sagte ich. Randolph, sagte er. Komm, wir gehen nach Hause, sagte ich. Ich griff nach seinem rechten Arm, als wolle ich ihm aufhelfen, in Wahrheit wollte ich verhindern, dass er doch noch eine Waffe zog, er hatte eine dabei, ohne Zweifel. Er stand auf, ganz langsam, wie ein Mann, der älter ist, als er damals war. Die Frauen sahen uns an, als ich meinen Vater hinausführte, wir machten kleine Schritte. Im Treppenhaus begann er zu weinen, ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen und wusste nicht, was ich tun sollte. Dann fiel er mir um den Hals, was er auch noch nie getan hatte, und schluchzte an meiner Haut, ich spürte seine Tränen. Ich war hilflos, überfordert, das muss ich zugeben, wollte mich aus seinem Griff befreien und davonlaufen, konnte ihn aber nicht im Stich lassen als Sohn. Ich spürte den Revolver unter seiner Achsel. Gib mir den Revolver, sagte ich, obwohl das überflüssig war, er würde jetzt kein Massaker mehr anrichten. Es war mein Weg, die Situation aufzulösen, die Umarmung zu beenden. Gehorsam trat er einen halben Schritt zurück, nestelte den Revolver hervor und reichte ihn mir. Weil ich die Haustür gehört hatte, steckte ich mir den Revolver hinten in den Hosenbund unter die Jacke und führte meinen Vater die Treppe hinunter, er schluchzte immer noch, eine Frau sah uns seltsam an, der Revolver drückte gegen mein Steißbein. Wir stiegen in mein Auto, und ich brachte meinen Vater nach Hause, um dann wieder zur Baustelle zu fahren, verstört, muss ich sagen, denn wenn mein Vater mit dem Gedanken gespielt hatte, den Arzt zu erschießen oder gar ein Massaker in seiner Praxis anzurichten, konnte das nichts anderes heißen, als dass er seine Tochter geliebt hatte. Wir hatten das zu ihren Lebzeiten nicht erkennen können. Versteckte Liebe.
    Was sagte das über das Verhältnis meines Vaters zu meinem kleinen Bruder und zu mir? Wurden wir auch geliebt? Ich konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken,

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