Muttertier @N Rabenmutter
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»Sag mal, ist Hanna wieder in Mönchengladbach?«
Meine Mutter verschwendet am Telefon keine Zeit mit höflichen Begrüßungsfloskeln. Ist ja im digitalen Telefonzeitalter auch nicht mehr nötig. Der Gesprächspartner sieht doch an der angezeigten Rufnummer, mit wem er spricht. Ich bin da altmodischer. Ich schätze es sehr, wenn ein Mann mir die Tür aufhält, mir in den Mantel hilft oder man mir Gesundheit wünscht, wenn ich niesen musste. Besonders freue ich mich, wenn ich am Telefon mit ›Ich wünsche dir einen wunderschönen guten Morgen!‹ begrüßt werde. Nun ja, meine Mutter ist da eben moderner. Und so überfiel sie mich auch an jenem Morgen gleich mit der Frage nach meiner ehemals besten Freundin.
»Ich wünsche dir einen wunderschönen guten Morgen. Und die Antwort ist: Ich habe keine Ahnung.«
Woher sollte ich das auch wissen? Ich hatte Hanna seit meiner Hochzeit vor zehn Jahren weder gesehen noch gesprochen. Abgesehen davon, dass sie sich auf meiner Hochzeit um mehr als sechs Stunden verspätet hatte, hatte es für die Funkstille keinen Grund gegeben. Hanna und ich hatten uns auf dem Gymnasium angefreundet. Auf den ersten Blick waren wir ein sehr ungleiches Paar. Ich war groß und blond, sie klein und dunkelhaarig. Es war mir sehr unangenehm, dass ich durch meine Größe überall wahrgenommen wurde. Deshalb versuchte ich mich möglichst unauffällig zu verhalten. In meinem Zeugnis der ersten Klasse stand der schöne Satz ›Maxi ist ruhig und zurückhaltend‹. So ist es auch geblieben. Hanna war da ganz anders. Was ihr an Körpergröße fehlte, kompensierte sie durch Lautstärke. Wir waren wie die Pole eines Magneten, und wahrscheinlich war es gerade unsere Unterschiedlichkeit, die uns so fest verband. Wir taten uns gut. Hanna holte mich aus meinem Mauseloch, und ich bremste sie, wenn ihr südländisches Temperament mit ihr durchging. Bei aller Unterschiedlichkeit gab es eine Gemeinsamkeit, die uns fest zusammenschweißte: Unsere Eltern spielten nicht in der Lacoste-Liga unserer Schule. Es tat gut, nicht die Einzige zu sein, auf deren Polo-Hemd kein grünes Krokodil dämlich grinste. Als alle mit Adidas-Rucksäcken zur Schule kamen, lag ich meiner Mutter in den Ohren, dass ich unmöglich länger mit einem herkömmlichen Tornister in die Schule gehen konnte. Schließlich bekam ich einen Rucksack – von ALDI. Da auch der ALDI-Rucksack mit Geld bezahlt worden war, musste ich ihn natürlich benutzen. Wie war ich froh, als Hanna an jenem Morgen mit genau dem gleichen Rucksack in die Schule kam. Für Hanna war dieser jedoch überhaupt kein Problem. Sie freute sich aufrichtig darüber, sagte immer wieder, wie praktisch er doch sei und noch dazu so günstig. Und überhaupt wäre es doch super, dass nur wir beide diesen formschönen und praktischen Rucksack hätten. Ihre Freude war nicht gespielt. Sie empfand es genau so, wie sie es ausgedrückt hatte. Hanna war ebenso echt, wie es unsere Freundschaft war. Es ging nicht darum, Mitglied in einer bestimmten Clique zu sein oder sich den anderen in irgendeiner Form zunutze zu machen. Wir verbrachten unsere ganze Freizeit miteinander, telefonierten abends stundenlang und schmiedeten Zukunftspläne. Gemeinsam wollten wir in unserer Heimatstadt Mönchengladbach studieren und eine WG gründen. Mönchengladbach ist nicht das, was man eine schöne Stadt nennt. Es gibt keinen historischen Ortskern, keine Fachwerkhäuser und keine Schindeldächer. Aber es ist meine Heimatstadt, und ich hatte meine Lieblingsplätze, wo ich aus den unterschiedlichsten Gründen so glücklich war, dass ich nirgendwo anders auf der Welt sein wollte. Als Kind war es der große, aus Erwachsenensicht eher kleine Bär aus Stein im Bunten Garten. Jeden Sonntag, wenn wir mit der Familie dort spazieren gingen, rannte ich allen voraus zu meinem Bären. Ich setzte mich auf seinen Rücken und versank in einer Fantasiewelt, in der der Bär echt war. Natürlich war er mein Freund, und gemeinsam erlebten wir spannende Abenteuer. Der Bunte Garten blieb einer meiner Lieblingsorte. Als ich größer wurde, spielte ich hier mit Freunden Minigolf, meinen ersten Freund küsste ich in der Hängematte auf dem Spielplatz und bis zum Abitur lief ich gern durch den Park von der Schule nach Hause. Ein anderer Lieblingsplatz war das Eiscafé Marco in Eicken. Hier trug ich zeitweise mein ganzes Taschengeld hin, was der freundliche Inhaber mir damit dankte, dass er mir hin und wieder eine Kugel Eis spendierte. Als
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