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Angst

Angst

Titel: Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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erschlafft. Das äußerste Gesunkensein aller Kräfte folgt bald und die Geisteskräfte versagen ihre Thätigkeit. Die Eingeweide werden afficirt. Die Schließmuskeln hören auf zu wirken und halten den Inhalt der Körperhöhlen nicht länger mehr zurück …
    Hoffmann hielt sich das Buch unter die Nase und atmete ein. Eine Mischung aus Leder, Bibliotheksstaub und Zigarrenrauch, so streng, dass er ihn förmlich schmecken konnte, mit einem Hauch einer chemischen Substanz – Formaldehyd vielleicht, oder Leuchtgas. Er musste an ein Laboratorium oder einen Hörsaal aus dem 19. Jahrhundert denken. Für einen Augenblick sah er Bunsenbrenner auf hölzernen Labortischen, Glaskolben mit Säure und das Skelett eines Affen vor sich. Er schob die Visitenkarte des Buchhändlers wieder zwischen die Seiten und klappte das Buch vorsichtig zu. Dann trug er es zum Bücherregal, wo er ihm mit zwei Fingern behutsam Platz schaffte, zwischen einer Erstausgabe von The Origin of Species, die er für 1 2 5 000 Dollar bei einer Auktion von Sotheby’s in New York gekauft hatte, und einem ledergebundenen Exemplar von The Descent of Man, das einst Thomas Henry Huxley gehört hatte.
    Später würde er versuchen, sich an den genauen Ablauf dessen zu erinnern, was er danach getan hatte. Er schaute sich am Bloomberg-Terminal auf seinem Schreibtisch die Schlussnotierungen in den USA an: Dow Jones, S&P 500 und NASDAQ – all diese Indizes hatten mit Verlusten geschlossen. Er tauschte ein paar E-Mails mit Susumu Takahashi aus, dem für die VIXAL -4-Transaktionen während der Nacht verantwortlichen Händler, der berichtete, dass alles reibungslos funktioniere, und Hoffmann daran erinnerte, dass die Tokioter Börse nach den alljährlichen drei Feiertagen der Goldenen Woche in weniger als zwei Stunden wieder öffnen werde. Sie werde sicher schwach tendieren und die in Europa und den USA in der vergangenen Woche rückläufige Kursentwicklung ihrerseits nachholen. Und es gebe noch etwas anderes: VIXAL beabsichtige, wei tere drei Millionen Procter-&-Gamble-Anteile zu 62 Dollar das Stück in Short-Positionen aufzubauen, was ihre Gesamtposition auf sechs Millionen steigern werde. Ein großer Trade: Ob Hoffmann zustimmen wolle? Hoffmann mailte sein Okay zurück, warf dann seine halb gerauchte Zigarre in den Kamin, stellte ein feinmaschiges Metallgitter davor und löschte das Licht im Arbeitszimmer. Im großen Flur überprüfte er, ob die Haustür abgeschlossen war, und schaltete die Alarmanlage mit dem vierstelligen Code 1729 ein. (Die Zahl hatte Hoffmann einem Gespräch entliehen, das die Mathematiker G. H. Hardy und S. I. Ramanujan im Jahr 1920 geführt hatten. Hardy war in einem Taxi mit dieser Nummer ins Krankenhaus gefahren, um seinen im Sterben liegenden Kollegen zu besuchen. »Was für eine langweilige Zahl«, hatte Hardy gesagt, worauf Ramanujan erwidert hatte: »Aber nein, Hardy, ganz und gar nicht. Das ist sogar eine sehr interessante Zahl. Es ist die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Weisen als Summe zweier dritter Potenzen darstellen lässt.«) Hoffmann ließ unten nur eine einzige Lampe brennen – dessen war er sich später sicher – und ging dann die geschwungene weiße Marmortreppe ins Bad hinauf. Er nahm die Brille ab, zog sich aus, wusch sich, putzte sich die Zähne und zog einen blauen Seidenpyjama an. Als er die Weckzeit auf seinem Handy auf 6:30 Uhr einstellte, sah er, dass es 0:20 Uhr war.
    Er ging ins Schlafzimmer und war überrascht, dass Gabrielle noch wach war. In einen schwarzen Seidenkimono gehüllt, lag sie rücklings auf der Tagesdecke. Auf der Frisierkommode flackerte eine Duftkerze, sonst lag der Raum im Dunkeln. Die Hände hatte sie unter dem Kopf verschränkt, die Ellbogen steil abgewinkelt, die Beine auf Kniehöhe übereinandergeschlagen. Ein schmaler, weißer Fuß mit dunkelrot lackierten Nägeln zeichnete ungeduldig Kreise in die wohlriechende Luft.
    »O Gott«, sagte er. »Ich habe unser Date vergessen.«
    »Keine Sorge.« Sie öffnete den Gürtel, öffnete den seidenen Kimono und breitete die Arme aus. »Ich vergesse nie ein Date.«

    Es musste um halb vier morgens gewesen sein, als Hoffmann durch irgendetwas geweckt wurde. Er kämpfte sich aus den Tiefen seines Schlafs, öffnete die Augen und blickte in eine himmlische Vision aus gleißend weißem Licht. Sie hatte eine geometrische Form, wie ein Diagramm, mit dicht an dicht verlaufenden waagerechten Linien und in weitem Abstand zueinander stehenden

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